Ich hab dich im Gefühl
Anblick ist so komisch, dass ich lachen muss. Ich höre nur, wie Dad, während er verzweifelt mit seinem Trolley Schritt zu halten versucht, immer wieder »Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie« stammelt, wenn er an Leuten vorbeikommt, die ebenfalls jenseits der gelben Linie stehen. So umkreist er einmal das gesamte Gepäckband, und als er zu der Stelle zurückkommt, wo ich immer noch stehe und mich vor Lachen krümme, hat endlich jemand ein Einsehen und hebt dem keuchenden und grummelnden alten Mann das Köfferchen vom Band.
Mit puterrotem Gesicht und schwer atmend zieht er es zu mir.
»Ich lass dich deinen Koffer selbst holen«, verkündet er und zieht die Kappe verlegen ein Stück weiter in die Stirn.
Ich warte auf den Rest des Gepäcks, während Dad um das Band herumschlendert und sich »ein bisschen mit London vertraut macht«. Nach dem Vorfall am Dubliner Flughafen hat die Stimme des Navigationssystems in meinem Kopf ständig genörgelt, ich solle
augenblicklich
eine Kehrtwendung machen. Aber irgendwas in mir ist wild entschlossen weiterzumachen, und vollkommen überzeugt davon, dass diese Reise jetzt genau das Richtige ist. Allerdings frage ich mich jetzt plötzlich, was ich eigentlich vorhabe. Während ich meinen Koffer vom Band hole, fällt mir plötzlich auf, dass ich überhaupt keinen Plan habe. Ein aussichtloses Unternehmen, weiter nichts. Allein mein Instinkt hat mich, ausgelöst von einem verwirrenden Gespräch mit einem Mädchen namens Bea, dazu gebracht, mit meinem fünfundsiebzigjährigen Vater, der Irland sein Leben lang noch nie verlassen hat, nach London zu fliegen. Auf einmal kommt mir das, was mir eben noch als das einzig Richtige erschien, vollkommen irrational vor.
Was bedeutet es, wenn man fast jede Nacht von einer Person träumt, die man im wirklichen Leben noch nie gesehen hat, und dann eine Zufallsbegegnung am Telefon mit ihr stattfindet? Ich habe Dads Notfallnummer gewählt, und dieses Mädchen hat auf die Notfallnummer ihres Vaters geantwortet. Was sagt mir das? Was soll ich daraus lernen? Ist es einfach ein Zufall, den jeder normal denkende Mensch ignorieren würde, oder habe ich recht, wenn ich denke, dass noch etwas anderes dahintersteckt? Ich hoffe so, dass diese Reise einiges klärt. Aber während ich Dad betrachte, der auf der anderen Seite der Halle ein Plakat ansieht, fange ich an, panisch zu werden. Ich habe keine Ahnung, was ich mit ihm machen soll.
Plötzlich fährt Dads Hand an seinen Kopf, dann an die Brust und er kommt mit manischem Blick auf mich zugelaufen. Ich greife nach seinen Pillen.
»Gracie!«, japst er.
»Hier, schnell, nimm.« Meine Hand zittert, als ich ihm die Tabletten und die Wasserflasche hinhalte.
»Was machst du denn da?«
»Na ja, du sahst aus …«
»Wie sah ich aus?«
»Als hättest du einen Herzanfall!«
»Weil ich auch einen kriege, wenn wir nicht schleunigst hier rauskommen.« Er packt mich am Arm und will mich wegziehen.
»Was ist los? Wo willst du hin?«
»Nach Westminster.«
»Was? Warum? Nein! Dad, wir müssen erst mal ins Hotel und unser Gepäck abladen.«
Er bleibt stehen, fährt herum und streckt mir beinahe aggressiv sein Gesicht entgegen. Mit vor lauter Adrenalin ganz zittriger Stimme stößt er hervor: »Die
Antiquitäten-Roadshow
veranstaltet heute von halb zehn bis halb fünf einen Wertbestimmungstag in einem Gebäude namens Banqueting House. Wenn wir uns jetzt auf den Weg machen, können wir uns noch anstellen. Wenn ich die Sendung schon nicht im Fernsehen ansehen kann, weil ich in London bin, will ich den weiten Weg wenigstens nicht umsonst gemacht haben und mir nicht auch noch die Chance entgehen lassen, alles in Fleisch und Blut zu sehen. Womöglich kriegen wir sogar Michael Aspel zu Gesicht!
Michael Aspel
, Gracie. Herr des Himmels, machen wir, dass wir hier wegkommen.«
Vor lauter Aufregung sind seine Pupillen riesig wie im Drogenrausch, er saust durch die Schiebetüren – nichts zu verzollen außer einem hoffentlich vorübergehenden Wahnsinnsanfall! – und biegt selbstsicher nach links ab.
Im Empfangsbereich kommen von allen Seiten Männer in Anzügen mit Pappschildern auf mich zu. Ich winke ab, seufze und warte. Schließlich erscheint Dad, in Höchstgeschwindigkeit schaukelnd, den Trolley im Schlepptau.
»Du hättest mir ruhig sagen können, dass das nicht der richtige Weg war«, sagt er, rauscht an mir vorbei und eilt in die entgegengesetzte Richtung.
Dad hetzt mit dem Köfferchen über den Trafalgar
Weitere Kostenlose Bücher