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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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Kirchgänger mit
Leidenschaft erfüllte und sie so kraftvoll singen ließ, wie ich weiße Leute nie
hatte singen hören.
    Rule, Britannia! Britannia rule the waves:
    Britons never never never will be slaves …
    Das war es.
Ja. Jetzt erinnerte ich mich. Es war nicht in New York gewesen und auch nicht
in Charles Town. Nein, früher, viel früher. Auf dem Sklavenschiff. Unter Deck,
in der Kabine des Medizinmannes, der manchmal gerne sang. Ich hatte keine
Ahnung gehabt, was die Worte bedeuteten, und nahm an, er sei krank, vielleicht
sogar verrückt, wenn er wieder mal zu viel getrunken und eine Frau aus meiner
Heimat beschmutzt hatte und dann mitten in der Nacht in seinem Bett lag, zur
niedrigen Decke hinaufsah und diesen Refrain gegen das Krachen der Wellen und
das Schlagen der Segel anschmetterte. Wieder und wieder. Als Zuhörerschaft
hatte er nur den Papagei in seinem zugedeckten Käfig und mich, die ich steif und
starr neben ihm lag.
    Rule, Britannia! Britannia rule the waves:
    Britons never never never will be slaves …
    Ich hatte
kein Englisch gekonnt, war die Weißen nicht gewöhnt, war noch nicht mal eine
Frau, wenn auch gefährlich nahe daran, eine zu werden. So still wie nur möglich
lag ich da und fragte mich, was dieser Mann da nur sang. Lass ihn singen,
dachte ich, denn seine Hände berühren mich nicht, wenn er singt. Lass ihn
singen, dachte ich und hoffte darauf, eine weitere Nacht außer Reichweite
seiner haarigen Finger zu bleiben. Lass ihn singen, und schämte mich dafür,
dass er sich an den Frauen meiner Heimat verging. Das Unglück dieser Frauen war
mein Glück, ihr Elend mein Ausweg.
    Rule, Britannia! Britannia rule the waves:
    Britons never never never …
    Nie nie nie waren die letzten Worte, die ich hörte,
bis mich alarmierte Rufe von Männern und Frauen rings um mich herum
aufschreckten. Ich musste ohnmächtig geworden und von Sir Stanley Hastings
aufgefangen worden sein, denn plötzlich lag ich der Länge nach auf der
hölzernen Kirchenbank. Endlich. In der Position, nach der ich mich seit einer
Stunde so gesehnt hatte. Never never never … Ich lag nicht neben dem
Medizinmann, war nicht länger in Wurfweite vom kältesten Grab der Welt, sondern
ruhte auf der harten Holzbank einer anglikanischen Kirche, im Schutz des
höchstverehrten Abolitionisten Englands, Sir Stanley Hastings, dessen fester
Griff mich davor bewahrte, zu Boden zu rutschen. Ich hielt die Augen
geschlossen und fragte mich, was ich tun sollte. Die Anglikaner befanden sich
in einem Zustand lautstarker Erregung und Sir Stanley nicht weniger. »Ich bitte
euch, Leute, tretet zurück. Bitte, tretet zurück, unsere edle Besucherin ist
ohnmächtig geworden, zweifellos aufgewühlt von der Kraft unseres Glaubens, aber
fürchtet euch nicht. Wir werden sie wieder erwecken. Hier. Ihr Herz schlägt.
Sie atmet. Tretet bitte zurück, und wir helfen ihr. Sie braucht nur etwas
frische Luft.«
    Ich hielt die Augen
geschlossen, bis sie mich in die Sonne hinaustrugen.

Sie kommen und gehen von heiliger Erde
    {Manhattan, 1775}
    Solomon Lindo
und ich fuhren auf der Queen Charlotte von Charles Town Richtung Norden. Tag
um Tag wuchsen die Wellen vor dem Bug des Schiffes auf, brachen, schäumten und
schienen mir zuzurufen: Du wirst nie wieder Land
sehen . Das Wasser wirkte
dunkel und bedrohlich genug, um einen Menschen allein mit seiner Kälte
umbringen zu können. Mir graute vor meiner kleinen Kabine unter Deck, und ich
hätte Tag und Nacht oben über der Wasserlinie gestanden, wäre es nicht immer
kälter geworden, je weiter wir nach Norden kamen. Lindo wollte jeden Tag neu
mit mir sprechen, aber ich entschuldigte mich von jeder Diskussion über seine
Korrespondenz.
    Schwarze Bedienstete in
weißen Hosen und roten Westen servierten den Händlern und Pflanzern aus Charles
Town gekochte Krabben und geröstete Erdnüsse. Die Passagiere waren in
ausreichend guter Stimmung, um sich ihnen gegenüber hier draußen auf offener
See freundlich zu verhalten, aber ich durfte nicht mit in den Essraum der
Weißen und wies Lindos Einladungen in seine Kabine zurück. Er schien die Reise
als Gelegenheit zu sehen, sich zu entspannen und sich mit mir zu unterhalten,
und es ärgerte ihn, dass ich Abstand von ihm hielt.
    Am dritten Tag unserer
Reise, dem einzigen milden, sonnigen Tag an Bord, faulenzten die Männer und
Frauen an Deck und ließen sich von den Negern Madeira, Zigarren und Orangen
bringen. Lindo packte sein tragbares Schachspiel aus und sagte, ich

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