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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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die ganze Zeit gemacht?«
    »Sie war auf Mrs
Witherspoons Arm.«
    »Hat sie geweint oder
hatte sie Angst?«
    »Nein. Sie hatte einen
kleinen Abakus dabei, ein Spielzeug, und hat die Kugeln hin- und hergeschoben.«
    Mir wollten keine
weiteren Fragen einfallen, und Theo McArdle hatte nichts mehr zu sagen.
    »Ich habe seit Tagen
kaum mehr was gegessen«, sagte ich, »und ich habe Freunde in Birchtown, die
nicht wissen, wohin. Geben Sie mir etwas zu essen, und ich lasse Sie in Ruhe.«
    »Ich habe selbst nicht
viel.«
    »Geben Sie mir etwas zu
essen, Mr McArdle. Sie haben die Witherspoons meine Tochter mitnehmen lassen,
und ich brauche etwas zu essen.«
    Hinten aus seiner
Druckerei holte McArdle einen Zwei-Pfund-Beutel Reis, ein Eisbein, einen Beutel
Erbsen und einen Laib Brot. Ich nahm die Sachen und ging.
    Jason wartete
am Rand der Stadt auf mich. Er hatte nichts zu essen, aber eine Schramme im
Gesicht. Es gab keine Arbeit für ihn in der Stadt und auch kein Unterkommen.
Nur entlassene Soldaten mit schussbereiten Gewehren, geballten Fäusten und
Stiefeln, mit denen sie Tritte austeilten. Jason fragte, wo meine Tochter sei.
Ich konnte nicht antworten. Er fragte nicht wieder.
    Wir schleppten uns
durch den Matsch zurück nach Birchtown. Im Wald war es schaurig still,
wenigstens gab es keine marodierenden Männer.
    »Ich habe meine Tochter
verloren«, flüsterte ich endlich. »Mein letztes Kind.«
    »Sag nie, ›dein
letztes‹«, sagte Jason. »Sag das nicht, Missus Dee.«
    »Sie war mein
letztes Kind, Jason, und ich sage es, weil es wahr ist. Such nicht nach mir, um
dich am Leben zu erhalten, wenn wir wieder in Birchtown sind. Denn ich bin in
der Verfassung zu sterben.«
    Jason nahm mir den Sack
von der Schulter und packte ihn sich auf seine. Ich dachte nicht mal daran, zu
protestieren, und kann nicht sagen, wohin die nächste halbe Stunde ging, nur
dass sie in einem Nebel der Verzweiflung verschwand. Als wir in Birchtown
ankamen, sahen wir, dass noch mehr Hütten zerstört waren, aber wenigstens waren
die weißen Plünderer nicht mehr da. Daddy Moses saß auf einem Balken vor meiner
Hütte und wartete auf mich. Jason half dem alten Mann auf, und wir gingen
hinein. Wunderbarerweise stand meine Hütte noch. Sie war stärker als ich.
    Die nächsten Wochen
über versank ich in so tiefer Agonie, dass ich kaum sprechen konnte. Ich ließ
Jason und Daddy Moses in meiner Hütte wohnen, bis sie selbst wieder eine
hatten, vermochte aber nichts zu tun, unterrichtete die Kinder von Birchtown
nicht, half keinem Baby auf die Welt, arbeitete auch nicht für Theo McArdle
oder tat sonst etwas. Ich hatte Angst, wenn ich meinen Gefühlen Ausdruck gäbe,
würde der Schmerz so aus mir hervorbrechen, dass ich um mich schlagen und
jemanden umbringen könnte. Ich hatte keinerlei Geld, um für eine Reise nach
Boston zu bezahlen, und als ich endlich McArdle und andere Weiße in der Stadt
danach fragte, bestanden sie darauf, dass ich dort verhaftet und möglicherweise
neu versklavt werden würde, wenn ich niemanden hatte, der für mich bürgte.
    »Wir wissen nicht mal,
ob sie in Boston geblieben sind«, sagte McArdle. »Sie können auch nach
Philadelphia gegangen sein, nach New York oder Savannah. Sie können nach
Jamaika gefahren sein, nach Barbados, Saint-Domingue oder England.«
    Mit McArdles Hilfe gab
ich Anzeigen in Zeitungen in Boston auf, in New York und Philadelphia und bot
eine kleine Belohnung für jegliche Information über das Verbleiben der
Witherspoons, ehedem ansässig in Shelburne, Neuschottland. Ich fragte jeden
Weißen in der Stadt, der mit mir reden wollte, aber keiner wusste etwas
darüber, was aus den Witherspoons geworden war. Ich schrieb sogar an Sam
Fraunces, bei Präsident George Washington, Mount Vernon, Virginia. Nach sechs
Monaten bekam ich eine freundliche Antwort, aber Sam Fraunces hatte auch nichts
herausfinden können.
    Meine Kinder waren wie
Phantomglieder, mir entrissen und doch fest mit mir verbunden, verloren, aber
immer noch ein Quell des Schmerzes. Ich hörte auf zu kochen, zu arbeiten und zu
essen, und zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich keinerlei Wunsch zu
lesen. Ich hörte sogar auf, an Chekura zu denken. Vielleicht hatte Daddy Moses
recht. Wenn Chekura mich hätte finden wollen, hätte er es vor langer Zeit schon
getan.
    Daddy Moses fragte, ob
ich bereit sei, Jesus in mein Herz zu lassen. Ich erklärte ihm, dass ich als
junges Mädchen einen Glauben gehabt hätte, dass ich ihn aber hätte

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