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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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bedeutete, May zurück nach Birchtown zu
bringen, und dachte, es sei das Beste, wenn ich zunächst allein ging.
    So verabredete ich mit
den Witherspoons, May für zwei Tage bei ihnen zu lassen, um nach meiner Hütte
zu sehen und sie, wenn nötig, zu reparieren, Daddy Moses und meinen anderen
Freunden zu helfen und anschließend zurück nach Shelburne zu kommen, um meine
Tochter wieder abzuholen.
    Frühmorgens schlich ich
die Charlotte Street hinunter, bog in die Water Street und sah nicht einen
Neger in der Stadt arbeiten. Am Anleger hatte ein Schiff festgemacht, aber nur
weiße Hafenarbeiter waren darauf zu sehen. Einige der Männer hielten in ihrer
Arbeit inne, stellten ihre Holzlasten ab und starrten zu mir herüber, doch
niemand näherte sich mir oder sagte ein Wort. Ich schaffte es ohne Zwischenfall
aus der Stadt. Gewöhnlich begegneten mir vier bis fünf Leute auf dem Weg nach
Birchtown, aber heute sah ich nur einen Neger, einen Toten, der neben dem Weg
in einem Baum hing. Er trug eine Hose, aber kein Hemd und keine Schuhe. Ich
erschauderte, spürte jedoch, dass ich nicht weitergehen konnte, ohne
nachzusehen, ob es jemand war, den ich kannte. Ich drehte seine Füße und sah
ihm ins Gesicht, aber der Mann war so schlimm und blutig zugerichtet, dass ich
ihn nicht erkennen konnte.
    Daddy Moses hatte seine
Methodisten-Kapelle am östlichen Ende der Siedlung errichten lassen, damit sie
jedem Besucher, der aus Shelburne kam, gleich in den Blick fiel, und als ich um
die Bucht kam und die Brücke über den Bach überquerte, sah ich als Erstes die
verkohlten Überbleibsel. Die Kirche war völlig niedergebrannt worden. Drei alte
Frauen standen betend vor der Asche, und eine vierte kochte etwas über einem
Feuer bei der Ruine. Ich ging weiter und sah, dass viele der Hütten angesteckt
und umgeworfen worden waren. Die Gärten waren zertrampelt, und die Leute gingen
zerlumpt und gebeugt umher. Ich fand Daddy Moses beim Friedhof. Er saß auf
seinem Karren, schien seine Brille verloren zu haben und hatte einen Striemen
auf der Wange. Ich legte meine Hand in seine.
    »Ich bin froh, dass du
lebst, Schwester«, sagte er. »Niemand wusste, wo du warst.«
    Ich zog Daddy Moses zu
seiner Hütte. Die Tür war weg, eine Wand war eingetreten, und das Dach wirkte,
als wollte es einstürzen.
    »Wo warst du, als sie
dein Haus angegriffen haben?«, fragte ich ihn.
    »Saß vorne auf der
Stufe und hab auf sie gewartet. Ich hörte sie trinken, grölen und randalieren
und sah direkt in ihre Richtung, als sie näher kamen. Ich hab zu ihnen gesagt:
›Wenn Gott mich will, wird er mich holen. Also los, erschießt einen blinden
alten Mann, wenn ihr das Töten im Blut habt.‹ Einer hat mich mit einem
Gewehrkolben geschlagen, ein anderer hat mir in die Rippen getreten. ›Ich kann
euch nicht sehen‹, hab ich ihnen gesagt, ›aber ich kenne euch. Jede einzelne
Stimme kenne ich, und wenn ich vor euren Schöpfer trete, werde ich Ihm von
eurem Gemetzel erzählen. Erschießt mich, wenn ihr den Mut habt.‹ Aber den
hatten sie nicht. Feiglinge, allesamt. ›Blinder Mann‹, rief einer, ›sag deinen
Leuten, sie sollen aus Shelburne rausbleiben. Bleibt hier, und es gibt keinen
Ärger mehr.‹«
    Ich ging zu meiner
Hütte. Einer hatte die Tür eingetreten und meine Sachen auf dem Boden
verstreut. Ich sah die Männer um Ben Henson wieder vor mir und erschauderte,
als ich mir vorstellte, wie sie in meinem Heim gewütet hatten. Daddy Moses und
ich trafen uns vor seinem Haus mit ein paar Männern aus der Gemeinde. Wir
beschlossen, zuerst die Behausungen in Ordnung zu bringen, die am wenigsten in
Mitleidenschaft gezogen worden waren. Wessen Hütte fast oder ganz neu gebaut
werden musste, sollte zunächst bei anderen mit einziehen.
    Ich verbrachte den Tag
und die Nacht in Birchtown, und auch den Großteil des nächsten Morgens. Zu
zehnt reparierten wir zwei andere Hütten und meine. Ich half, Daddy Moses in
meinem vorderen Zimmer unterzubringen, eilte mittags zurück nach Shelburne und
versprach, vor Einbruch der Dunkelheit mit meiner Tochter zurück zu sein.
    An der verkohlten Ruine
der Kirche vorbei und über die Brücke lief ich Richtung Stadt. Es war ein
langer Weg, wenn man allein war. Der Wind fuhr in die Bäume zu meiner Linken,
und draußen auf dem Wasser hoben sich weiße Schaumkronen, um gleich wieder in
sich zusammenzufallen. Dann hörte ich hinter der nächsten Biegung die lauten
Stimmen von Männern. Ich rannte in den Wald und bewegte mich leise

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