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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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scharfen Ast den Fuß aufgeschnitten, und der rote Kreis um die
Wunde wurde größer und größer, so oft ich sie auch in jedem neuen Bach wusch.
    Eines Tages dann sah
ich spätnachmittags einen Mann auf einer Anhöhe Ziegen hüten. Er stand reglos
da und sah zu, wie ich zu ihm hochkletterte. Etwa auf der Hälfte des Weges
rutschte ich aus und brach zusammen. Die Erschöpfung ergriff von mir Besitz wie
die Nacht vom Licht des Tages. Ich konnte nicht wieder aufstehen. Er kam
zögernd näher und schlug dabei ins Gras vor sich. Ich versuchte es auf Bambara
und verstand keines seiner Worte. Ich wollte aufstehen, aber er bedeutete mir,
liegen zu bleiben, und brachte einen ledernen Wassersack. Ich trank und erbrach
mich. Ich versuchte es auf Temne. Keine Antwort. Ich versuchte es auf Fulfulde,
und er verstand mich: »Hilf mir. Verstecke mich. Bring mich zu deinen Frauen.
Bitte.«
    Er war jung und drahtig
und trug mich ohne große Anstrengung in den Schatten eines Baumes, gab mir
seinen Wassersack und sagte, ich solle warten. Er kam mit drei Männern, vier
Frauen und einer Trage aus Ruten und Schnüren zurück, die aussah, als wäre sie
für den Transport verwundeter Krieger gemacht. Sie legten mich darauf, und die
Frauen taten aufgeregt herum und stellten mir Fragen über Fragen: Wer war ich
und woher kam ich? Wir schienen stundenlang unterwegs zu sein. Bei jedem Ruck
schrien meine Knochen auf, und das Fieber kroch noch tiefer in sie hinein, in
meinen Nacken, meinen Rücken, die Knie und Fußgelenke. Endlich erreichten wir
ein Dorf aus strohgedeckten Lehmhütten. Ich war erleichtert, dass es so klein
war. Hier würden keine Sklavenhändler suchen. Ich wurde in den Schatten einer
Hütte getragen. Tagelang schlief ich nur und trank Wasser.
    Als ich das Bewusstsein
wiedererlangte, sah ich eine kleine Gestalt aus dem Raum laufen und wieder
hereinkommen. Ich blinzelte. Das Gesicht eines Maultiers sah mich an. Dann
hörte ich eine helle Stimme schimpfen, und ein junges Mädchen mit einer
hölzernen Gerte kam herein und trieb das Tier mit einem Schlag hinaus. Die
Kleine brachte mir Wasser. Sie war etwa acht Jahre alt.
    »Wie heißt du?«, fragte
ich auf Fulfulde.
    »Aminata«, erwiderte
sie.
    »Ich heiße auch
Aminata«, sagte ich, deutete auf mich und wiederholte den Namen.
    Ihr Gesicht wurde von
einem Lächeln erfüllt, das hell wie der Tag war.
    »Aminata«, sagte sie,
zeigte auf sich und mich und sagte den Namen noch einmal.
    »Essen«, sagte ich.
    »Später«, sagte sie.
    Sie betrachtete mich
eine Weile. »Bist du ein Toubab?«
    »Sehe ich wie einer aus?«,
fragte ich.
    »Ich hab noch keinen
gesehen.«
    »Die Toubabu haben eine
weißrosa Haut, manchmal hat sie auch die Farbe eines hellen Flaschenkürbisses«,
sagte ich.
    »Die Toubabu essen
Menschen, so wie wir Ziegen«, sagte sie.
    »Nicht die, die ich
kenne.«
    »Hast du schon welche
gesehen?«
    »Ich habe bei ihnen
gelebt. In ihrem Land.«
    »Du lügst«, sagte sie
und sprang mit einem Kichern aus der Hütte.
    Wieder schlief ich ein,
trank, lutschte etwas Salz und aß eine Mango. Während ich den holzigen Kern
ablutschte und nicht wusste, wann ich wieder etwas zu essen bekommen würde,
wurde mir klar, was ich zu tun hatte. Falls ich Alassane und seinen Männern
tatsächlich zu entfliehen vermochte, würde ich alles in meiner Macht Stehende
tun, dass ihnen niemand mehr in die Hände fiel. Oder in die eines anderen
Sklavenhändlers.
    Der Großteil meines
Lebens war verstrichen, seit ich Bayo das letzte Mal gesehen hatte, und ich war
nicht einmal sicher, ob ich es überhaupt wiedererkennen würde. Gab es immer
noch den Erdwall um die Häuser? Hatte der Häuptling immer noch die vier kleinen
Rundhäuser für seine Frauen? Würde ich das Zerstoßen der Hirse und Sheanüsse
hören, wenn ich das Dorf betrat? Aber vielleicht gab es das Dorf ja auch gar
nicht mehr … Oder es hatte überlebt und war um das Zehnfache gewachsen. Falls
es Bayo noch gab, konnte ich nicht sicher sein, dass auch nur einer dort mein
Gesicht wiedererkannte.
    Vom Tag meiner
Verschleppung an hatten es mir die Gedanken an zu Hause unmöglich gemacht, mich
einem der Orte zugehörig zu fühlen, an die es mich verschlug. Wäre mir mein
Mann erhalten geblieben und hätte ich mit ihm und unseren Kindern jahrelang an
einem Ort gelebt, vielleicht wäre ich dann dort zur Ruhe gekommen. Meine
Familie hatte aber kein gemeinsames, sicheres Nest gefunden, um sich darin
niederzulassen. Dennoch verspürte ich nach

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