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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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Fuß versank
in etwas Nassem, Weichem. Unter meiner Ferse knackte es, wie ein Zweig. Ich
schrie auf. Ich war in den Körper eines nackten, verwesenden Mannes getreten,
machte einen Satz zur Seite und riss Blätter vom nächsten Ast. Wie wild wischte
ich mir die Masse sich windender weißer Maden vom Fuß. Ich zitterte und
keuchte. Fanta nahm die Blätter, säuberte mir den Fuß und drückte mich an sich.
Sie sagte, ich müsse keine Angst haben, aber ich wurde nur immer noch
hysterischer, obwohl Fanta mich anfuhr, ich solle mich beruhigen. Ich konnte
nicht aufhören zu schreien.
    »Hör jetzt sofort
auf!«, rief Fanta. Sie packte mich bei den Schultern, schüttelte mich und legte
mir eine Hand über den Mund. Sie drehte meinen Kopf, bis sich unsere Blicke
trafen.
    »Sieh mich an«, sagte
sie. »Sieh her. Sieh in meine Augen. Das war kein Mensch mehr.«
    Meine Lunge begann sich
zu beruhigen. Das Würgen ließ nach, und ich vermochte wieder freier zu atmen.
Fanta nahm die Hand von meinem Mund. Ich schrie nicht wieder.
    »Das sind nur Haut und
Knochen«, sagte sie. »Stell dir eine tote Ziege vor. Es ist nichts als ein
toter Körper.« Fanta hielt mich an sich gedrückt, bis ich nicht mehr zitterte.
    Von diesem Tag an waren
es nicht mehr nur Schlangen und Skorpione, auf die wir auf dem immer
ausgetreteneren Pfad zu achten hatten. Bald stiegen wir täglich über mindestens
eine Leiche. Wenn Gefangene zu Boden gingen, wurden sie von den anderen
losgebunden und achtlos liegen gelassen, wo sie verrotteten.
    Wir
marschierten einen ganzen Mond lang und dann noch einen. Neben dem Zunehmen und
Abnehmen des Mondes beschrieb jetzt auch mein eigener Körper das Vergehen der
Zeit. Bis zur nächsten Blutung kamen wir an noch mehr Dörfern vorbei, mehr
Gefangene kamen zu unserer Gruppe hinzu, und noch mehr Wächter knoteten abends
unsere Füße zusammen.
    Wenn mich die Leute
heute nach meiner Heimat fragen, scheinen sie fasziniert von den wilden Tieren
dort. Alle wollen wissen, ob ich vor Löwen oder wild heranrennenden Elefanten
flüchten musste, aber die Menschenfänger waren die größte Gefahr. Jeder Mann,
jede Frau, die den Vormarsch störte, wurde heftig geschlagen, und wer zu
fliehen versuchte, wurde getötet. Die wilden Tiere waren das Letzte, weswegen
ich mich sorgte. Eines Abends jedoch, als wir uns gerade unter einer Baumgruppe
niedergelassen hatten, kam ein Pavian aus den Büschen hervorgerannt. Schultern
und Hüften schwangen wild, und er stieß wie eine Biene mitten zwischen uns. Wir
sprangen auf und schrien. Die Fänger schrien auch, und der Pavian schnappte
sich das kleine Mädchen, das jetzt seit zwei Monden mit seinem Vater ging,
hielt es gepackt und rannte mit ihm ins Gestrüpp. Noch als sie längst außer
Sicht war, konnte ich das Mädchen jammern hören. Der Vater sprang auf die Füße
und schrie um Hilfe. Chekura schnitt die Schlinge um seinen Hals durch, und die
beiden rannten hinter dem Pavian her.
    Sie blieben lange weg.
Wir aßen bedrückt und warteten auf eine Antwort darauf, was mit dem Mädchen
geschehen war. Wir hörten den Vater klagen, bevor wir ihn sahen, und dann kamen
Chekura und er einen Hügel herunter. Der Vater trug seine bewegungslose Tochter
in den Armen. Ihr Hals war offen und tiefrot. Die Fänger fesselten den Vater
nicht wieder. Sie ließen ihn ein flaches Grab für seine Tochter ausheben. Er
häufte Erde auf sie, kniete nieder und weinte hemmungslos. Es war das erste
Mal, dass ich einen Mann weinen sah. Mein Magen verkrampfte sich. Es war nicht
richtig, einen erwachsenen Mann so weinen zu sehen. Es schien unmöglich, dass
ihm seine Tochter so jäh hatte genommen werden können. Sein Schmerz war
unerträglich für mich, doch ich konnte seinem Klagen nicht entkommen. Tagsüber
durfte ich frei gehen, aber nachts wurde ich mit den anderen gefesselt. Ich
versuchte mich auf andere Dinge um mich herum zu konzentrieren. Die Palmen, die
Felsen, die hohe Erdmauer um ein fernes Dorf, ein Karnickel im Mondlicht. Auch
die anderen Gefangenen wandten sich von dem trauernden Vater ab.
    Alle schliefen nach und
nach ein, aber ich konnte nicht aufhören, an den Mann und sein Kind zu denken.
Als ich ihn irgendwann nicht mehr schluchzen hörte, sah ich mich nach ihm in
der Dunkelheit um, aber der Platz neben dem Grab war leer. Endlich entdeckte
ich ihn, wie er auf einen Baum etwa zwanzig Schritte hinter uns zuging. Höher
und höher kletterte er in ihn hinein, zog sich von einem Ast zum nächsten. Der
Baum war

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