Ich habe mich verträumt
Mehr als genug. Wyatt Dunn konnte ein letztes Mal als Entschuldigung herhalten, bevor wir, oh weh, gezwungen wären, getrennte Wege zu gehen.
„Aber es ist mein Geburtstag“, protestierte Mémé. „Sag deinem Freund doch ab.“
„Nein“, entgegnete ich lächelnd.
„Zu meiner Zeit hatte man noch Respekt vor dem Alter“, brummte sie.
„Ja, ich finde auch, dass die Inuit das früher richtig gemacht haben“, warf Margaret ein. „Die Alten würdevoll auf einer Eisscholle auszusetzen. Was meinst du, Mémé?“
Ich musste lachen und erntete einen bösen Blick meiner Großmutter. „Hört mal, ich muss jetzt gehen. Arbeiten korrigieren und so weiter. Ich hab euch lieb. Wir sehen uns zu Hause, Margs.“
„Prost, Grace!“ Mit wissendem Lächeln hob sie ihr Glas. „Hat Wyatt eigentlich noch einen Bruder?“
Ich lächelte, klopfte ihr auf die Schulter und ging.
Als ich zehn Minuten später in meine Auffahrt bog, sah ich sofort zu Callahans Haus hinüber. Vielleicht war er da. Vielleicht wünschte er sich Gesellschaft. Vielleicht würde er mich wieder beinahe küssen. Vielleicht würde es diesmal nicht beim „Beinahe“ bleiben …
„Nichts ist unmöglich“, sagte ich und stieg aus. Im Fenster erschien Angus’ kleiner Kopf, und das übliche Willkommensgebell erscholl. „Eine Sekunde, mein Süßer!“, rief ich und ging geradewegs zum Haus Nummer 36. Klopfte entschlossen an die Tür. Wartete.
Doch niemand öffnete. Maßlos enttäuscht klopfte ich erneut. Als ich zur Straße schaute, fiel mir verspätet auf, dass Callahans Truck nicht dastand. Seufzend drehte ich mich um und ging nach Hause.
Der Wagen war auch am nächsten Tag nicht da, und am übernächsten auch nicht. Nicht, dass ich herumspionierte, natürlich … Ich sah nur alle zehn Minuten oder so aus dem Fenster und musste mir widerstrebend eingestehen, dass ich ihn … oh weh … vermisste. Ich vermisste seine kleinen Scherze, seine wissenden Blicke, die starken Arme. Die kribbelnde Lust, die ein einziger Blick von ihm auslösen konnte. Und als er auf demDach mein Gesicht berührt hatte, war ich mir vorgekommen wie das schönste Geschöpf auf Erden.
Also wo war er, verdammt? Warum nervte es mich so, dass er für ein paar Tage weg war? Vielleicht steckte er wieder in einem orangefarbenen Overall und sammelte Müll vom Fahrbahnrand des Freeway auf, weil er irgendwie gegen die Bewährungsauflagen verstoßen hatte. Vielleicht war er ein Maulwurf der CIA und aktiviert worden, so wie Clive Owen in Die Bourne Identität . „Muss noch eben jemanden umbringen, Schatz … Komme später zum Essen!“ Das schien jedenfalls besser zu Callahan zu passen als ein Bürojob, so viel war sicher.
Vielleicht … vielleicht hatte er eine Freundin. Das glaubte ich zwar nicht, aber ich wusste es natürlich nicht sicher.
Am Freitagabend hatte ich schließlich genug davon, mich wegen Callahan zu quälen, und beschloss, lieber mit Kiki zu Julians Single-Tanznacht zu gehen, als weiterhin über seinen Verbleib zu grübeln. Eigentlich sollte ich ja mit Wyatt in New York sein. Margaret saß griesgrämig mit einem Haufen Arbeit und einer Flasche Wein in der Küche und klagte, dass sie mit der Familie essen gehen müsse.
Und so befand ich mich um neun Uhr abends anstatt am Esstisch mit Mémé, die vermutlich gerade maulend ein teures Essen an ihrem Zwerchfellbruch vorbeischob, und meinen Eltern, die pausenlos dazu zankten, auf der Tanzfläche und wirbelte mich zu Gloria Estefan durch Julians Tanzsaal. Ich tanzte mit Julian, ich tanzte mit Kiki, ich tanzte mit Cambry, dem Kellner, und amüsierte mich prächtig.
Männer gab es für mich hier keine – den einzigen annehmbar attraktiven Hetero hatte Kiki sich geschnappt, und die beiden schienen sich gut zu verstehen. Da Cambry offenbar einen Haufen Freunde mitgebracht hatte, waren auch nicht, wie sonst üblich, nur jede Menge Frauen mittleren Alters versammelt, sondern es gab eine bunte Mischung.
Ich hatte nichts dagegen. Es bedeutete, dass die Männer gut tanzten, geschmackvoll gekleidet waren und – eine der großen Ungerechtigkeiten dieses Lebens – unerhört gut flirteten. Ja,schwule Männer waren generell bessere Freunde als heterosexuelle Männer, vom Sexuellen einmal abgesehen, wo die Sache dann doch nicht funktionierte. Trotzdem hätte ein schwuler Freund mir wenigstens Bescheid gesagt, wenn er für ein paar Tage die Stadt hätte verlassen müssen. Nicht, dass Callahan mein Freund war, natürlich.
Ich ließ
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