Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
aus. Ich schnappe mir meine Tasche und renne zur Tür. »Kate!«, ruft Jessie mir nach. »Warte!«
Nein, ich kann nicht warten, Jessie. Ich hab keine Zeit. Ich werde nicht in diese Zelle zurückkehren und hilflos mit ansehen, wie andere Leute meine Geschichte weiterschreiben. Jetzt, da ich diese wichtige Information habe, kann ich den Rest selbst zusammenfügen; noch bin ich mein eigener Herr. Jessie hat mich am Arm gepackt und steckt mir etwas zu. Ihren Fahrradschlüssel. »Nimm die Treppe am anderen Ende des Flurs. Geh an den Toiletten vorbei, da geht’s dann raus.«
Portia macht ein paar hastige Schritte auf uns zu, ihre Miene ist versteinert. »Vielleicht unterstützen und decken Sie hier eine Verbrecherin, Jessie. Das ist ein schwerwiegendes Vergehen.«
Unten wird mit etwas Schwerem gegen die Tür gedonnert. Dumpf hallt es zu uns hoch. Meine alte Freundin schaut mich an, nimmt mich bei den Ellbogen und drückt mich fest – mehr in der Hoffnung, dass ich unschuldig bin, als dass sie gesicherte Beweise dafür hätte. »Keine Kompromisse«, flüstert sie mir entschlossen zu, und dann, nach einem letzten Blick zurück in Portias verblüfftes Gesicht, renne ich los, stürme mit Riesenschritten die Treppe hinunter und radele durch eine müllübersäte Gasse davon, über holprige Pflastersteine, dass Jessies Fahrradhelm in dem kaputten Plastikkorb nur so klappert.
39
I ch fahre so schnell, dass ich nach zehn Minuten unter einer Eisenbahnbrücke anhalten muss, weil mir das Herz in der Brust zu zerspringen droht. Schweiß rinnt mir über den Rücken und sammelt sich in den Kniekehlen. Ein Güterzug rumpelt über die Gleise über mir, und ich schreie und schreie und schreie bei dem Gedanken an das, worauf ich da zufällig gestoßen bin. Portias beiläufige Bemerkung hat mir alles gesagt. Bluthund. Lex hat eine Spur gelegt. Für mich. Ich sehe ihn vor mir, wie er auf dem Bett liegt und nicht mehr hochkommt, wie sein Blut auf die frische Bettwäsche läuft, wie er in seinen letzten Augenblicken verzweifelt darauf sinnt, eine Falle zu stellen; wie er noch das letzte Fünkchen Kreativität aufbietet, um zu verhindern, dass das einfach so durchgeht. Seinen größten schöpferischen Akt hat Lex sich für das Ende aufgespart; mit seinem letzten Atemzug hat er die Botschaft auf den Weg gebracht und nicht nur gehofft, dass sie bei mir ankommt, sondern auch, dass ich sie zu deuten weiß. Das tue ich, Lex, absolut. Ich werde dich nicht hängenlassen.
Ich fange wieder an zu heulen, beweine den Verlust, weine um Melody, um Lex, um mich selbst. Er hat dieses Wort noch geröchelt, weil er wusste, dass ich nicht lockerlassen würde. Bluthund. Das Wie weiß ich; was ich nicht weiß, ist das Warum . Und ich schreie mit der Energie und der Wut, die es braucht, um zu handeln, um dieses Warum herauszufinden, um dem Weg zu folgen, den Lex mir gewiesen hat, und um zu sehen, wohin er mich führt.
Ich schwinge das Bein wieder über den Rahmen von Jessies altem Raleigh-Fahrrad und bewege das Pedal in eine günstige Position zum Aufsteigen. Warum, Raiph? Warum? O’Shea ist der Antwort auch nicht näher als ich, obwohl sie Computer zur Verfügung hat und Zugang zu Datenbanken, obwohl sie sich auf die Gerichtsmedizin stützen kann und das Gesetz auf ihrer Seite hat. Hier helfen all die Systeme und Routinen und Berichte nicht weiter. Dies ist eine extravagante Sache, hier ist Arroganz im Spiel. Raiph hat Lex zum Schweigen gebracht, aber der Schal ist in meinem Haus aufgetaucht. Das Messer im Kanal. Ich fahre jetzt nach Hause, und Paul wird mir sagen, was er weiß, und wenn es das Letzte ist, was er tut.
Nach einer guten halben Stunde strammen Radelns stellen sich die Dinge schon etwas anders dar. Fünf Straßen von meinem Haus entfernt halte ich hinter einem Garagenkomplex an und überlege. Einfach so nach Hause gehen kann ich nicht; die Polizei wird dort schon auf mich warten. Mein Telefon habe ich sicherheitshalber ausgeschaltet, die SIM-Karte steckt in meiner Hosentasche. E-Mail-Zugang habe ich nicht. Von melodramatischen Vergeltungsgelüsten komme ich allmählich herunter auf die ganz praktischen Fragen. Ich bin auf der Flucht und weiß nicht, wo ich die kalte Nacht zubringen soll. Es mag dumm sein, dieses Risiko einzugehen, aber ich kann mich dem Sog meines Zuhauses nicht entziehen; die Leere in meiner Brust muss gefüllt werden, ich muss in die Nähe meiner Kinder.
Ich puste in die eisigen Hände und fahre zu einer Brücke über den
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