Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
Raum düstere Schatten. Max und Marcus machen sich offenbar nie die Mühe, den Rechner herunterzufahren, und ein Passwort oder Ähnliches ist auch nicht vonnöten.
Endlich kann ich etwas tun. Ich nehme Melodys »Neat-Feat«-CD aus der Hülle und lege sie in den Rechner. Ein Film startet, der so absurd ist, dass ich um ein Haar laut loslache. Er ist mit einer kleinen Kamera aufgenommen, die offensichtlich vorn an einem Fuß befestigt war. In einer Sequenz geht jemand über einen braunen Teppich, wobei sich stachlige Fasern vor die Linse setzen; dann knirschen Plateauschuhe vorbei. Ich sehe eine Haarklemme. Eine Stifthülle wird gegen ein Tischbein geschubst. Das Mikrofon ist hochempfindlich, jedes kleine Quietschen und Knarren der Ledersohle ist überdeutlich zu hören, die Stimmen hingegen verschwimmen und sind kaum zu unterscheiden. Jemand lacht, und dann erscheint der erhobene Zeigefinger einer Frau vor der Linse. Plötzlich schwenkt die Kamera himmelwärts, dann wieder um etwa fünfundvierzig Grad zurück. Derjenige, der sie trägt, hat sich gesetzt und das Bein übergeschlagen, so dass der Fuß auf dem anderen Knie ruht. Und dann streckt Astrid der Minikamera die Zunge heraus; hinter ihrem blonden Schopf erkenne ich die Kübelpflanzen im Forwood-Büro. »Scheiße, Lex, hast du das Ding etwa unter meinen Rock gerichtet?«, sagt sie und lacht. Danach ist nur noch ein lautes Rumpeln und Schaben zu hören, und dann wird der Bildschirm schwarz. Lex hat die Kamera ausgemacht. Filmen auf Fußhöhe – eine von seinen vielen Ideen, die getestet und schnell verworfen wurden.
Ein paar Sekunden später fängt ein neues Video an, jetzt befindet sich sein Schuh unter einem Tisch. Das ist nicht im Büro; ich sehe rohweiße Bodenfliesen, die Akustik ist etwas hallig und wirkt sehr offiziell. Als Lex mit dem Bein wippt, tanzt die Kamera wild hin und her, doch dann setzt er den Fuß auf den Boden, und es kehrt wieder Ruhe ein. Ihm gegenüber stehen Füße in weinroten Ballerinas gerade ausgerichtet auf den Fliesen. Die Beine der Trägerin sind nackt; sie hat schlanke Fesseln. Ich sehe zierliche Knochenstränge von den Knöcheln bis zu den Zehen. Lex dreht sich leicht zur Seite – er könnte gut in einem Drehstuhl sitzen –, und an der Stirnseite des Tisches tauchen an übereinandergeschlagenen Beinen teure hochhackige Pumps und hautfarbene Strümpfe auf; der eine Fuß kreist bedächtig im immer gleichen Rhythmus. Es ist unmöglich zu verstehen, was gesprochen wird, aber der Film ist auch so äußerst spannend. Die Körpersprache verrät unglaublich viel.
Links von den Ballerinas sehe ich ein Paar schwarze Männerschnürschuhe; das eine Bein ist in Richtung Kamera ausgestreckt, und als es zurückgezogen wird und der Schuh über die Fliesen schabt, weiß ich sofort, dass es Paul ist. Es folgen fünf Minuten, in denen viel auf Stühlen herumgerutscht wird und Beine wippen, wobei die Kamera vor allem auf die Pumps gerichtet ist, deren Trägerin kokett die Beine mal so und mal so übereinanderschlägt und sich zur Seite neigt. Gerade als ich anfange, mich zu langweilen, schwenkt Lex zurück zur vorigen Perspektive, und da, unter dem Tisch versteckt, geschützt vor neugierigen Blicken, ist ganz verschwiegen ein Fuß mit rotem Ballerinaschuh um Pauls Knöchel geschlungen – ein Zeichen heimlicher Leidenschaft, wie es deutlicher nicht sein könnte. Und als der Schuh unter dem Hosenbein meines Mannes verschwindet, weiß ich plötzlich, wo ich diese Ballerinas schon mal gesehen habe: ordentlich nebeneinander in dem Regal unter dem British-Railways-Zeichen, in Melodys Zimmer, das ihre Mutter aufgeräumt und mir so freundlich gezeigt hat.
Fünfzig Prozent aller verheirateten Männer betrügen ihre Frau. Oder siebzig. Oder alle – niemand weiß das so genau. Immer mehr Bilder von Stuhlbeinen und Knien ziehen an mir vorbei, aber ich schaue nicht mehr richtig hin. Ich war arrogant genug zu glauben, dass die Statistik für mich nicht gilt, dass ich eine Ausnahme bin, dass wir etwas Besonderes sind. Ich dachte, ich hätte Glück, aber eben habe ich die ungeschminkte Wahrheit gesehen, den grausamen Beweis dafür, dass es mir genauso geht wie allen anderen, dass mein Glück eine Fiktion war. Eloide hatte recht – sie und mich verbindet etwas: Du hast uns beide betrogen, Paul. Wie konntest du mir das antun? Du hast gewusst, was du tust. Und, was noch schlimmer ist, Lex hat es auch gewusst. Sein kleiner experimenteller Film hält es
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