Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
riskieren, Licht anzumachen, also richte ich den Strahl der Taschenlampe auf den Boden und taste mich langsam vorwärts. Pauls Tisch steht, von einer dekorativen Kübelpflanze ein wenig abgeschirmt, in einer Ecke. Paul hatte nie ein separates Büro, was bei jemandem, der nicht allein sein kann, wenig erstaunt. Außerdem sind Großraumbüros für eine Filmproduktionsfirma genau das Richtige. Ich lasse mich auf seinem Stuhl nieder und gewöhne mich allmählich an die Dunkelheit. Hier bin ich oft gewesen, wenn ich Paul zu irgendeiner Abendveranstaltung in der Stadt abgeholt habe. Ich habe die taxierenden Blicke ausgehalten, die der Frau des Chefs durch den ganzen Raum gefolgt sind. Meistens habe ich mich, während er noch etwas zu Ende bringen musste, mit einem Bier auf eine Ecke seines Schreibtischs gesetzt, obwohl er da neuerdings zwei alte Kinosessel stehen hat, in denen wohl die Besucher Platz nehmen sollten.
Der Strahl der Taschenlampe gleitet über jedes einzelne Objekt auf dem Schreibtisch. Ich ziehe die Rollkartei zu mir heran (Sergei ist so gründlich, dass er Pauls Kontakte alle auch auf Papier verwaltet) und schiebe meinen Daumennagel möglichst nahe beim G zwischen die Kärtchen. Ich lande beim F: Film Council; Florist (Maynard’s); Forman Kate; Graham, Melody. Die letzte Karte hat Paul beschriftet. Das hat schon was. Er hat seine Geliebte direkt neben mir einsortiert. Mit einem Ruck reiße ich die Karte heraus und schiebe sie mir in den BH.
Als Nächstes ziehe ich die Schubladen auf und krame in dem Chaos aus Stiften, Heftern und Verträgen auf vornehmem, blassblauem Forwood-Papier. Als sie damals anfingen, nur Lex und Paul in einem kleinen Raum in der Stadt, hat Paul mich viel öfter nach meiner Meinung gefragt als heute. So hatten wir auch endlose Diskussionen über die Farbe des Papiers: Altweiß oder Blassblau. Blassblau hat den Sieg davongetragen.
Los, weiter, ermahne ich mich, lass dich nicht ablenken. Ich suche das, was Melody nicht unterschrieben hat. Auf dem Schreibtisch, an den Computerbildschirm gelehnt, steht eine Karte von Jessie, ein Druck von einem ihrer Bilder. Ich sitze auf Pauls Stuhl, und meine Zehenspitzen reichen so eben bis zu den Dielen. Von hier aus hat er das gesamte Büro im Blick – sein Reich – und kann beobachten, was sich draußen im Hof abspielt. Astrids Schreibtisch steht im rechten Winkel zu seinem mitten im Raum. Sie blickt zu Lex hin, für den sie arbeitet, und ist von hier aus im Profil zu sehen. Neben ihrem Posteingangsfach steht eine Orchidee, daneben thronen ein Fläschchen Bachblüten-Essenz gegen Stress und eine teure Handcreme. Ihre Schubladen sind abgeschlossen. Sie hütet die Geheimnisse von Lex. Hat sie manchmal Anrufe von Melody entgegengenommen? Das Telefon an ihre hübschen Brüste gedrückt, Paul ein »Sie!« zugeraunt und den Anruf mit wissendem Blick durchgestellt?
Plötzlich fallen mir mein Vater und Barbara ein, wie sie da in ihrem Sechziger-Jahre-Bürokasten zusammengepfercht waren und sich immer unverhohlener freuten, wenn es Montagmorgen war, weil sie sich nacheinander sehnten; wie vor der Kulisse von Parkplatz und vierspuriger Schnellstraße ihre Leidenschaft füreinander wuchs, während meine Mutter immer weiter in den Hintergrund rückte. Wir mögen heute teurere Klamotten haben, schickere Einrichtungen und bessere Business Lunches, aber was im Büroalltag zwischen Menschen abgeht, hat sich seit Generationen nicht wirklich verändert. Affären entstehen über dem Laptop genauso wie über dem Fernschreiber. Plötzlich habe ich Tränen in den Augen.
Da ich den Schlüssel für Astrids Schubladen nicht finde, suche ich nach etwas, womit ich sie aufbrechen kann. Lex’ Schreibtisch steht auf der anderen Seite des Raums, am Fenster. Hier ist es heller, ich kann also die Taschenlampe ausschalten. Zwischen allen möglichen Papieren finde ich eine Mitgliedskarte für das Fitnessstudio, ein paar Valium, Fotos, auf denen er mit diversen Promis zu sehen ist, eine Biographie über den amerikanischen Filmproduzenten Don Simpson mit dem Untertitel The Hollywood Culture of Excess – und weiter nichts.
Ich wechsle hinüber zu Johns Schreibtisch, der in der Nähe der Toiletten steht. John sieht hier die meisten Leute nur von hinten. Auf dem Tisch herrscht eine beängstigende Ordnung; die Schreibunterlage ist blütenrein, der Stift mit Deckel versehen. Eine noch unangebrochene Flasche Evian steht bereit, damit John »sich Flüssigkeit zuführen« kann.
Weitere Kostenlose Bücher