Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
»Durst haben« ist dermaßen von vorgestern. Nichts Privates ist in diesen Arbeitsbereich vorgedrungen, nicht der kleinste Hinweis auf die überragende Persönlichkeit, die John – laut Paul – einmal war. Jahrelange Therapien und die unzähligen AA- und NA-Treffen, die er gebraucht hat, um sein von der Sucht nahezu zerstörtes Leben in Ordnung zu bringen, haben eine farblose Gestalt aus ihm gemacht. Als wären seine Persönlichkeit und seine Erfahrungen ohne all die chemischen Verstärker zu einem Grauton verblasst. Unter dem Schreibtisch steht eine verschlossene Sporttasche. Parallel zur Tastatur liegt ein Feuerzeug; Rauchen ist die einzige Sünde, die er sich gestattet, und er raucht viel. John Forman, Pauls großer Bruder, mitgezogen im Kielwasser des Erfolgs, den der Jüngere hat.
Seine Schubladen sind nicht abgeschlossen, aber es ist auch nichts Interessantes darin zu entdecken. Also bücke ich mich und ziehe den Reißverschluss der Sporttasche auf. Zwischen Adidas-Socken und Calvin-Klein-T-Shirt liegt eine Geheimhaltungsvereinbarung zwischen Forwood und Melody Graham. Wenn es stimmt, was ich zwischen den Zeilen der endlosen Juristenklauseln herauslese, hat sie Forwood eine Idee zu einer Serie vorgeschlagen. Sie hat das Papier unterschrieben. Das Datum liegt ein halbes Jahr zurück. Während ich noch darin lese, kracht es plötzlich neben mir. Da ist noch jemand in dem dunklen Raum.
Ich rutsche von Johns Stuhl auf den Boden. Die Rückwand des altmodischen Schreibtischs reicht bis ganz hinunter, so dass sich zwischen den beiden Schubladenteilen ein kleiner, nahezu abgeschlossener Raum ergibt, in dem normalerweise der Stuhl gerade Platz hat. Dort kauere ich mich zusammen, schlinge die Arme um die angezogenen Knie. Ich möchte mich einfach nur klein machen, für einen Kampf fehlt mir der Mumm. Die Dielen ächzen unter dem Gewicht eines Menschen, dessen Schritte immer näher kommen; der Schwere und Entschlossenheit nach zu urteilen, sind das die Schritte eines Mannes. Ich sehe Taschenlampenlicht über die rückwärtige Wand und weiter zur nächsten Wand springen. Er dreht sich zum Fenster um, ist keinen Meter von mir entfernt. Stille.
Die Angst sitzt mir im Nacken, und mir fällt ein, wie Lynda einmal im Sommer in unserem Caravan eine Feldmaus gefangen hatte: Lange haben wir dagesessen und sie beobachtet. Sie hockte am Boden eines Cornflakes-Kartons. Als ich ihr mit dem Finger über das Rückgrat strich, zuckte sie zusammen, und das Herz in ihrer Brust schlug – deutlich sichtbar – dreimal so schnell. Jetzt sitze ich hier in der Falle wie die Feldmaus, und mein Schicksal liegt in der Hand eines anderen, denn ich habe absolut keine Entschuldigung dafür, dass ich mitten in der Nacht in einem Büro, in dem ich nicht arbeite, unter einem Möbelstück kauere. In einem Anflug von bitterer Reue wünsche ich mir, Paul hätte mich an dem fraglichen Montagabend nicht geweckt, hätte sein Schluchzen und Stöhnen mit sich allein abgemacht, so dass mein Seelenfrieden nie gestört worden wäre.
Als ich höre, wie beim Fenster ein Stuhl gerammt wird, hebe ich vorsichtig den Kopf und spähe aus meiner Höhle. Die Gestalt bewegt sich in Richtung eines Konferenzraums, der von mir aus gesehen rechts liegt. Ich krabbele unter Johns Schreibtisch hervor. Der Ausgang befindet sich in meinem Blickfeld, wenn auch zehn Tische entfernt. Nachdem wir die Feldmaus ein bisschen rauh angepackt und laut gezetert hatten, stellte Lynda die Cornflakes-Schachtel raus, ins Freie, unter einen Baum, und wir warteten darauf, dass das kleine Geschöpf instinktiv um sein Leben rennen würde. Nichts passierte, das arme Ding war starr vor Schreck. Die Tür zum Konferenzraum fällt quietschend ins Schloss, und ich sehe eine Silhouette in Richtung Toiletten laufen. Ich nehme die Ausgangsposition eines Sprinters im Startblock ein, die im Dämmerlicht schimmernde Glastür fest im Blick. Ich weiß, dass sie nach außen aufgeht. Irgendwann hatte Lynda es satt, immer nur auf das knallige Rot und Grün des Kellogg’s-Hahns zu starren. Mit einem Schrei kickte sie die Schachtel hoch in die Luft, woraufhin ich jammernd und heulend zurück zum Caravan rannte. Ich habe mich nicht noch einmal umgedreht. Ich will nicht wie diese Feldmaus sein und einfach abwarten, was mir das Schicksal beschert.
Ich bin beim dritten Schreibtisch, als ich ihn überrascht ächzen höre. Dann verfolgt er mich. Er ruft irgendwas, aber ich habe nur Augen für die Tür zur
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