Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
Gefühl sagt mir, dass ich vor einer Art Durchbruch stehe.«
»Das klingt gut!«
»Könnte aber auch alles nur Gerede sein.«
»Das ist nun mal das Los des Künstlers, oder?«
»Meins jedenfalls.« In Jessies Leben hat es immer nur eine wahre Liebe gegeben: ihre Kunst. Sie hat in Bars und Nachtclubs gearbeitet, um sich das Studium an der Kunsthochschule zu finanzieren; hat in besetzten Häusern gewohnt, um die Leinwand bezahlen zu können; muss auch heute noch andere Jobs machen, damit es für die Ateliermiete und die Materialien reicht. Sie nutzt jede freie Minute zum Malen. »Wie spät ist es?«
Ich schiebe meinen Mantelärmel zurück, um auf die Uhr zu sehen. »Gleich eins. Warum?«
Statt zu antworten, lässt sie ihren Blick schweifen. »He, da ist jemand, den ich kenne.« Sie winkt zwei jungen Männern zu, die ein Stück weiter auf dem Springbrunnenrand sitzen. »Guck jetzt nicht hin, aber mit dem linken bin ich gerade so ein bisschen zusammen.« Ich spähe hinüber; der Typ ist vielleicht zwanzig und hat ein Ziegenbärtchen. »Er ist neunzehn.«
»Dich müssten sie einsperren!«, rufe ich in gespielter Empörung. Im Laufe der Jahre, die ich Jessie nun schon kenne, war sie mit unzähligen Männern zusammen, hat welche abserviert, wurde von anderen verlassen. Ich bezweifle, dass sie alle gleichzeitig in die National Gallery passen würden, wohingegen meine früheren Liebhaber es selbst in meinem Badezimmer schwer hätten, einander näherzukommen. In Jessies Leben hat es viele Leidenschaften gegeben, in meinem eine.
Der junge Mann winkt zurück.
»Kommen sie nicht rüber?«
»Vielleicht gleich noch.«
Ich zucke die Achseln; mir ist das egal. Tauben stoßen herab und tippeln ein paar Schritte; es herrscht ein ziemliches Gedränge. Alles scheint normal, und doch habe ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. »Ist alles in Ordnung, Jessie?« Sie prüft die Nachrichten auf ihrem Handy.
Dann lächelt sie. »Wie noch nie! Was macht Paul?«
Heute wird es mir nicht warm ums Herz, als die Rede auf ihn kommt. »Alles gut so weit. Er ist vielleicht ein bisschen gestresst. Seine Produktionen kommen sehr gut an, glaube ich. Bei Crime Time zum Beispiel steigt die Quote.«
»Schön!«
»Das mit der Zuschauerbeteiligung hat richtig eingeschlagen. Die Leute greifen scharenweise zum Handy und melden sich.«
»Interessant.« Jessie beißt in ihr Mozzarella-Rauke-Sandwich. »Vielleicht sollte ich mit ihm mal darüber reden, wie ich mich am besten verkaufe. Er versteht es einfach, sich von der Masse abzuheben. Wie spät ist es jetzt?«
»Eins. Warum ist das so wichtig?« Sie wischt sich eine Mayonnaisespur aus dem Mundwinkel. Plötzlich wird das Brummen des Verkehrs von dröhnender Musik überlagert. Ich verstehe gar nicht, wo die plötzlich herkommt. »Was ist das?«
Jessie steht auf und fegt die Krümel von ihren Jeans. »Hast du dein iPhone dabei?« Ich nicke. »Hol’s doch mal raus.«
Ein rhythmischer Bass hallt über den Platz, und ein paar Meter von uns entfernt beginnt ein Paar zu tanzen. Es ist unmöglich, dem Sound zu widerstehen; meine Schultern bewegen sich schon, und ich sehe gleich neben uns vier Leute bei einem Line Dance.
»Bin gleich wieder da«, sagt Jessie und gesellt sich zu einer Gruppe von sechzehn Leuten, die sich in zwei Reihen aufgestellt haben und tanzen. Auch ihr Freund und dessen Freund kommen dazu; die Gruppe wird immer größer.
Tauben weichen vor der wogenden Horde zurück. Ich verliere den Überblick. Unmittelbar vor mir vollführen ein paar Leute verrückte, aber schöne Bewegungen. Passanten bleiben irritiert stehen, ein Paar hastet davon, ein Obdachloser steht da wie erstarrt. Unter den Tänzern sind die unterschiedlichsten Leute, alle Altersklassen sind vertreten, manche sehen aus wie höchstens dreizehn, andere wie Ruheständler. Hausfrauen, Frauen mit hohen Hacken, ein schnauzbärtiger Mann.
Inzwischen sind es sicher mehr als hundertfünfzig Tänzer, und keine Frage, sie haben das geprobt; sie bewegen sich völlig synchron. Jessie hat mich zu einem Flashmob gelockt, und wie alle anderen Zuschauer auch zücke ich mein Handy und nehme das auf. Plötzlich fühle ich mich herrlich ungezwungen, ich wiege mich hin und her, überlasse mich dem Rhythmus, erfreue mich an der Absurdität dieser Performance zu Füßen der Nelson-Säule. Was der Admiral wohl davon gehalten hätte?
Jetzt läuft andere Musik, moderner, schneller, und die Tänzer bewegen sich dazu freier,
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