Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
kraftvoller. Ich bin sicher, dass irgendjemand die Aktion filmt und das Video möglichst schnell auf YouTube hochladen wird. Ich stehe auf der niedrigen Springbrunnenumrandung. Auf einem der riesigen Löwen entdecke ich einen Mann mit einer leistungsstarken Videokamera.
Auf den Stufen zur Galerie, in der so viel ehedem moderne und innovative Kunst hinter Glas hängt, drängen sich die Schaulustigen.
Jessie schwingt die erhobenen Arme und singt aus voller Kehle. Die Musik wird immer lauter, die Zuschauer lächeln einander an, irgendwo ruft jemand »Bravo«. Ein letzter Move, eine letzte schwierige Drehung, dann springt die Hälfte der Tänzer auf jeweils einen anderen zu und reißt die Arme hoch.
Ebenso unvermittelt, wie die Musik eingesetzt hat, verstummt sie auch wieder, und die Tänzer gehen auseinander, als sei nichts gewesen. Zwei Polizisten, ihrem Mienenspiel nach zu urteilen hin- und hergerissen zwischen Spaßhaben und Wachsamsein, stehen plötzlich wie gestrandet mitten auf dem leeren Platz. Die Leute auf den Stufen beginnen zu klatschen und lautstark Beifall zu bekunden.
Kichernd sinkt Jessie mir in die Arme. »Ich konnte dir doch vorher nichts sagen. Du hättest dein Gesicht sehen sollen – einfach unbezahlbar!«
»Das war toll. Wie bist du denn dazu gekommen?«
»Wir haben es über Facebook verabredet, uns einmal in einer Lagerhalle in Clapton zum Üben getroffen und es dann einfach gemacht. Es war klasse!«
»Sieh mal.« Die Polizisten sprechen den Mann an, der auf dem Löwen gehockt und gefilmt hat. »Heute Abend bist du wahrscheinlich in den Nachrichten.«
»So berühmt werde ich nie wieder sein.«
»Oh, ich erhoffe mir einiges für dich, Jessie.«
»Komm, wir trinken noch was.« Sie schiebt ihren Arm in meinen.
»Stellst du mir den neuen Mann vor?« Ich schaue mich nach ihm um.
»Ach, der ist nicht wichtig.« Sie zieht mich weiter. »Die Sache ist die, dass ich den verheirateten Mann, mit dem ich mich auch treffe, wirklich ziemlich mag. Ich fürchte, ich verliere da ein bisschen die Kontrolle.« Sie sieht mich besorgt an. »Wenn du das blöd fändest, würdest du’s mir sagen, oder?«
»Ausgerechnet ich? Hast du vergessen, dass Paul verheiratet war, als wir …«
Jessie winkt ab. »Er war doch damals viel zu jung. Das hat nicht gezählt.«
»Er hatte einer anderen die Treue geschworen.«
»Bis dass der Tod uns scheidet«, sagt sie, als wir in die Charing Cross Road einbiegen. »Eigentlich ein guter Titel für ein Bild.« Einen Moment lang sieht sie vor ihrem inneren Auge etwas, das mir verborgen bleibt. »Menschenansammlungen haben eine unglaubliche Macht, oder?«
»Absolut. Organisier sie, und sie machen die verrücktesten Sachen.«
»Und wenn du dabei bist, glaubst – oder tust – du alles.«
»Das lehrt ja die Geschichte. In Gruppen sind Menschen leicht zu manipulieren.«
»Mein Herz rast immer noch.« Jessie schlägt sich an die Brust; ihre Augen glänzen.
»Wer ist dieser verheiratete Mann?«
»Psst.« Sie legt einen Finger an die Lippen. »Ich will es nicht verderben. Der Sex ist schließlich einmalig. Ich würde sterben dafür.«
»Sag so was nicht!« Ich bin doch erstaunt. So redet Jessie sonst nicht über ihr Liebesleben – mit solcher Inbrunst. Unser Gespräch kommt ins Stocken. Sie schweigt, und mich durchfährt plötzlich so etwas wie Eifersucht.
»Wofür würdest du sterben?«
»Na ja.« Ich zucke die Achseln. »Für Paul und meine Kinder wahrscheinlich.«
»Wofür würdest du töten?«
»Jessie!«
»Na los!« Sie stützt sich fester auf meinen Arm.
»Für meine Familie. Meine Familie, und sonst nichts.«
Sie zieht die Nase kraus. »Wie banal. Und sentimental.« Sie ist immer noch auf Wolke siebzehn von ihrem Tanz-Event. Mit ausgebreiteten Armen beginnt sie, sich auf dem Fußweg zu drehen. »Ich würde für eine Ausstellung in New York töten. Für die Titelseite von Art Monthly . Für ein Paar neue Stiefel … Geht’s dir gut?«
Ich bin abrupt stehen geblieben, und Jessie starrt mich irritiert an. Während ihres Geplappers ist mir ein Gedanke eingeschossen: Wofür würde Paul töten? Ich hätte immer gedacht, dass seine Antwort das Spiegelbild zu meiner wäre. Wir waren immer stolz darauf, keine Geheimnisse voreinander zu haben – bis letzte Nacht. Ich kann schlicht nicht glauben, dass er wegen eines Hundes dermaßen aus der Fassung geraten würde. Wenn das Blut aber nicht von einem Tier stammte, von wem dann? Einen Augenblick lang spiele ich
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