Ich habe sie getötet: Roman (German Edition)
mir kleine Ausschnitte angeschaut und längere Passagen vorgespult. Einfach nur zuzuschauen war eine gute Ablenkung; während der Zeit habe ich nicht über Lex und seine Gründe nachgedacht, über seine Ängste und seinen Zorn. Nach drei Stunden bin ich bei einem kurzen Gespräch – wenigen Worten, um genau zu sein – zwischen Gerry und einem Gefängniswärter hellhörig geworden. Als ich kurz danach vom Fernsehen zum Internet gewechselt bin, nahm eine Idee schon langsam Gestalt an. Weitere zwei Stunden später habe ich auf der Suche nach einem Fernglas leise in Joshs Kleiderschrank gewühlt. Ich hatte einen Plan – albern und irrational vielleicht, aber es war ein Plan. Die Begegnung mit Lex hat auf mich gewirkt wie eine Einladung zum Handeln. Ich werde ihm zeigen, was für ein Bluthund ich sein kann!
Jetzt stehe ich inmitten Tausender Rennbahnfans; es herrscht ein unglaubliches Gedränge. Ich habe einem Schwarzhändler mit Zahnlücke einen inflationären Preis dafür gezahlt, noch ein All-areas-Ticket für das Cheltenham Festival zu bekommen. Gerry hat Pferdewetten geliebt, das habe ich ihn in Inside-Out sagen hören. Die wachsende Spannung in der Menge hat ihm gefallen, das Luftanhalten, die Flüche und Schreie, Freude und Elend komprimiert in den wenigen Sekunden, bevor die Pferde die Ziellinie erreichen. Und so ist mir letzte Nacht die Frage in den Sinn gekommen, ob Gerry nach so vielen Jahren wohl der Versuchung widerstehen kann, zum Cheltenham Festival zu gehen. Zudem ist mir aufgefallen, dass er sich über die kleinen Annehmlichkeiten, die im Knastleben vorkommen, freuen konnte: ein neues Buch in der Bibliothek, ein Kochkurs und so weiter. In den Filmen kommt er nicht als Typ rüber, der im Mittelpunkt stehen will, und wie könnte man seine Anonymität besser wahren als in einer riesigen Menschenmenge?
Als ich aber weitergehe, mal in die eine Richtung geschubst, dann in die andere gestoßen, wird mir eins klar: Selbst wenn ich mit meiner Ahnung richtigliegen sollte, wird es unmöglich sein, hier jemanden zu finden. Die Lautsprecheranlage erzeugt endloses, unverständliches Scheppern, während vor jedem Rennen Pferde und Reiter angesagt werden. Ich trage eine Sonnenbrille, die mein lädiertes Gesicht verbergen soll. Mühsam schiebe ich mich durch die schwankenden Massen, den Lageplan immer griffbereit, um nicht die Orientierung zu verlieren. Zwei Stunden lang gehe ich an der Haupttribüne auf und ab und schaue in Gesichter. Dabei passiert es mir immer häufiger, dass ich in eins der Partyzelte geschubst werde. Literweise und im Galopp kippen die Glücksspieler den Alkohol, ihre Gespräche werden von Stunde zu Stunde lauter und wüster. Ich kämpfe mich zu einer etwas höher gelegenen Sektbar an der Haupttribüne durch, stelle mich ans Fenster und schaue auf die Menschenmenge hinunter. Hier habe ich wenigstens einen Augenblick Luft. Ich tausche die Sonnenbrille gegen das Fernglas und nehme Gesichter ins Visier. Viele Leute kneifen die Augen halb zu, denn es weht ein scharfer Wind. Ich habe von hier aus fast die gesamte Rennbahn im Blick, aber da sind viele tausend Gesichter, und ich suche ein einziges. Ich weiß nicht, was für Sachen Gerry anhat oder ob er irgendetwas an sich verändert hat. Nach zehn Minuten setze ich mich. Aussichtslos. Hier einen einzelnen Menschen zu finden – selbst wenn man sicher wüsste, dass er da ist – ist nicht drin.
Ich scanne die Schlangen an den Wettschaltern, die Tribünen, die Menschentraube vor den Anzeigetafeln, die stehenden Zuschauer direkt an der Rennstrecke und die an der Ziellinie. Ich weiß, dass ich aufgeben und gehen sollte, aber nach der zweiten durchwachten Nacht innerhalb einer Woche bin ich schlicht zu müde, mich überhaupt zu bewegen. Gerry wird nicht viel Geld haben; wo könnte er sich dann hier aufhalten? Hinter mir heulen etliche Leute auf, als drei Pferde auf die Zielmarkierung zugaloppieren. Ich sehe mich in der Sektbar um – nur für den Fall. Nichts. Dann nehme ich das Fernglas wieder zur Hand und suche durch das Fenster weiter. An der Ziellinie gibt es ein Handgemenge; Hände wedeln durch die Luft, Fäuste werden gen Himmel gereckt. Dort ist die eigentliche Action, nirgends stehen die Leute so unter Strom wie da. Ich sehe eine Frau, die ihr Gesicht an der Schulter ihres Begleiters verbirgt; einen Mann mit Hut, der sich schier den Hals verrenkt, um besser sehen zu können; eine Frau, die eine Papierrolle in die Luft reckt und immer wieder
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