Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
Pla teau. Unsere Atemlosigkeit fand einen Erholungsplatz. Man hielt inne und hatte durch eine Lichtung nun immerhin auch einen Ausblick. Nicht auf den Tempel, nein, nur auf Natur. Doch dann merkten wir, dass diese wie wild erscheinende Natur in Wirklichkeit kunstvoll gestaltet war. Die Bäume waren auf raffinierte Weise beschnitten und neigten sich durch diese Beschneidung alle zu einer Seite, sie deuteten sozusagen auf einen einzigen Solitärbaum hin, der sich – ebenfalls beschnitten – wiederum der Gruppe zuneigte. Meisterhafte Gartenkunst!
Staunend stiegen wir weiter den Berg hinauf, dann durch einen torartigen Bogen, der andeutete, dass wir nun wirklich bald das Ziel erreichen würden. Zunächst schlängelte sich der Weg aber nochmals um eine Kurve, wie ein kleiner Umweg, denn der Tempel lag nicht auf der geraden Achsenverbindung von Tor und Weg, wie in Europa üblich, sondern leicht verschoben dazu.
Oben angekommen, nahmen wir unwillkürlich eine andere Haltung ein. Wir streckten und reckten unser Rückgrat – eine gute Ausgleichsübung nach dem langen Aufstieg, man ging nicht mehr gebeugt, sondern richtete sich auf. War auch das von den Tempelerbauern absichtlich so geplant worden, als Geschenk an den Aufsteigenden wie die Erholungsplattform auf zwei Dritteln des Weges? Dann kam die letzte Überraschung: Als wir auf den Tempel zugingen, bemerkten wir drei Stufen, die man zunächst hinabsteigen musste. »Welch eine Choreografie!«, rief Karlheinz. Erst der mühsame Aufstieg, dann ein Stück Weg flach geradeaus, eine Biegung zur Seite und schließlich noch drei Stufen hinunter.
Wir fühlten uns auf einmal ganz leicht, das Hinabschreiten hatte es bewirkt. Leicht begegnen soll man den Göttern, die im Buddhismus nicht direkt sichtbar, nicht anwesend sind. Sie zeigen sich eben nur indirekt. Die vielen Buddhafiguren stellen ja keine Götter dar, es sind Menschen, die den Aufstieg ins Nirwana, ins Nichts, ins Gestaltlose geschafft haben. Und sie sind Vorbilder. Welch ein Unterschied zu den christlichen Stätten der Verehrung! Schwer beladen betritt man bei uns die Heiligtümer, mea culpa , ja, man hatte wieder gesündigt. Beichte, Bereuen und Gnade erbitten. Mir war das Christentum suspekt geworden, das stets nur den Leidensweg betonte. Der Buddhismus dagegen zog mich schon seit einigen Jahren an. Mich beeindruckte das In-der-Mitte-Bleiben, die lächelnde, gleichmütige Hinnahme von allem, was geschah. Das Buch Buddha lächelt, Maria weint. Die zwei Weisen des Heils von Ursula von Mangoldt, das sich mit diesen beiden Gegenpolen beschäftigt, hatte ich mit großer Faszination gelesen.
Wir verbrachten schweigend viele Stunden in jenem Tempel. Anschließend wanderten wir zum großen Wasserfall an der Ostseite des Berges, nach dem der Tempel benannt war: Kiyomizu bedeutet »reines Wasser«. Dann machten wir uns an den Abstieg.
Für den nächsten Tag war ein Besuch bei Daisetsu T. Suzuki geplant, dem schon über neunzigjährigen berühmten Zen- Meister, der an einem Berg in Kamakura lebte. Dieser Besuch krönte unsere Reise. Suzuki saß auf einem Sofa, also nicht auf der Erde, und streichelte eine Katze. Er schien in die Ferne zu blicken, er war ja fast erblindet. Ich schwieg mit ihm, wir saßen ganz still da. Es war ein unglaubliches Gefühl, allein mit ihm in diese Stille zu kommen. Irgendwann sagte er – auf Englisch: »Sie haben eine Frage?«
Ich antwortete: »Ja, ich habe gerade unser erstes Kind geboren, und ich wollte es eigentlich buddhistisch erziehen. Aber wir leben in einem christlichen Land, und das ist ein Konflikt.«
Suzuki entgegnete: »Nein, erziehen Sie Ihr Kind im Glauben des Landes, in dem es aufwächst. Das, was Sie vom Buddhismus verstanden haben, das bringen Sie sowieso ein in Ihre Erziehung. Und vor allem, ich spüre Ihre Gedanken, verstehen Sie, was mit Christus gemeint ist!«
Ich stutzte. Wollte er meine Bekehrung zum Buddhismus nicht unterstützen? Nein, ganz und gar nicht. Er sagte: »Bis zur Erleuchtung sind Buddha und Jesus denselben Weg gegangen. Jesus ging dann noch einen Schritt weiter, er ging durchs Leid. Und das in aller Liebe. Gehen Sie nach Hause und versuchen Sie, das zu verstehen.« Ich war zutiefst dankbar für diesen Rat und versuchte ihn in den kommenden Jahren zu befolgen.
Es gab noch einen spannenden Austausch mit Suzuki über das Begriffspaar »künstlich« versus »natürlich«. Stockhausen hatte in einem seiner Texte darüber geschrieben, für ihn bildete der
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