Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
vorbei, vom Dunst Tokios etwas verschleiert, verschwommene, gestaffelte Schichtlagen von immer entfernteren Gebirgen. Ich verlor mich in Assoziationen an japanische Druckgrafiken oder Aquarelle. Das Nahe erkannte man gar nicht, dafür fuhr der Zug viel zu schnell, doch die entfernteren Hügel schienen fast stillzustehen, man konnte sie in Ruhe betrachten. War das ein Symbol für mein Handeln? Ich fühlte mich an Laotses Ausspruch erinnert: »Klar sieht, wer von ferne siehet, nebelhaft, wer Anteil nimmt.«
Ich war gedanklich offenbar ganz woanders als Karlheinz, bei dem nicht die gleiche Veränderung vorgegangen war wie bei mir. Ich würde mich erst daran gewöhnen müssen, dass wir uns nicht mehr unisono telepathisch austauschten. Nun waren wir ja wieder ein Dreiklang, aber die Instrumente mussten erst aufeinander eingestimmt, die Harmonie erprobt werden. Stockhausen wirkte auf dieser Bahnfahrt noch sehr befangen von dem neuen Konflikt, den er angerichtet hatte. Er schien mit sich zu hadern. Jetzt, da seine Liebschaft mit Aiko offenlag, fiel der Reiz des Geheimhaltens ja weg. Was blieb noch? Was konnte überhaupt bleiben? Und lohnte es sich, dafür sein ganzes Leben in Europa auf den Kopf zu stellen? In Kürten hatten wir nun endlich das Haus fertig, das Leben nahm seinen inzwischen doch geordneten Lauf: neue Vereinbarungen, die Scheidung, unser Kind. Nicht täglich als Dreigespann im selben Haus leben und doch eine Großfamilie, zumindest an den Wochenenden – wollte er all das jetzt aufs Spiel setzen?
Während ich so nachdachte und mich dabei auch in ihn hineinzuversetzen suchte, schob er mir ein Briefkuvert zu, auf das er nur einen Satz geschrieben hatte: »In dem Moment, wo man alles glaubt zu verlieren, gewinnt man alles zurück.« Ich habe diesen Brief noch und bin bis heute verblüfft, wie ähnlich seine Handschrift zuweilen der meinen war. Auch dies war wohl ein Zeichen unserer Seelenverwandtschaft; gelegentlich hatte man sogar manche meiner Skizzen für seine gehalten.
Ich musste mir eingestehen, dass mir Aiko, die uns nun all die Wochen unseres Japanaufenthalts begleitete, im Grunde sympathisch war. Momente des Leidens, die in dieser Zeit auftraten, hatte ich selbst heraufbeschworen. Als wir einen Tempel besuchten, hörte ich einmal ein Gespräch zwischen Karlheinz und ihr mit an, das nicht für meine Ohren bestimmt war – es ging um Zukunftsplanungen der beiden. Das tat weh. Warum blieb ich also zwar erschüttert, aber doch weiter lauschend stehen? Warum tat ich mir diesen Schmerz an? Im Weggehen nahm ich mir vor, nie mehr in die Privatsphäre von Karlheinz, ja überhaupt von anderen Menschen einzudringen. Stattdessen wollte ich Abstand halten, nicht etwa Brieftaschen, Jackenrevers oder Schreibtische nach Zeichen der Untreue durchforsten, kein Tagebuch und auch keinen Brief, der nicht mir galt, lesen. Ob ich das schaffen würde? So bei mir zu bleiben, nur das zu beachten, was direkt an mich gerichtet war? Konnte man sich so heraushalten? Ich entfernte mich von den beiden und ging in den Tempelhof. Dort musste ich an Doris denken, die vielleicht auch oft unseren Plänen und Liebesbeteuerungen hatte lauschen müssen. Alles wiederholte sich.
Ein Besuch bei dem mit Stockhausen befreundeten Musikprofessor Makoto Ohmiya in Kamakura half mir, meine Situation souveräner und liebevoller einzuschätzen. Zunächst erwartete uns in seinem Haus eine Überraschung: Der Flügel, der im großen Raum stand, war ein »Stutzflügel«, aber nicht in der üblichen Weise mit verkürztem Klangrahmen, sondern so, dass die Beine abgesägt waren – es war ein hinuntergestutzter Flügel. Die ebenfalls gekürzten Pedale hatten gerade noch Platz über dem Boden. Die Erklärung: Dieser Musiker pflegte im Schneidersitz am Boden Klavier zu spielen. In seinem Haus gab es überhaupt keine europäischen Stühle.
Ohmiya war Haydn-Kenner. Er zeigte uns seine hinter Schiebewänden aus Reispapier verborgene riesige Bibliothek mit über neuntausend Büchern, viele davon auf Deutsch. Es folgten Gespräche, Pianovorspiel, Austausch. Mit Aiko als Dolmetscherin unterhielt ich mich mit Ohmiyas Frau. Ihr Mann hatte lange Jahre als Gastprofessor in den USA gelehrt, und ihre große Sorge war gewesen, ob er auch immer gut versorgt gewesen sei – seine dortige Geliebte sei ihr nämlich zu egoistisch vorgekommen. Ich traute meinen Ohren nicht. Da bemühte ich mich, meine Eifersucht niederzukämpfen, und hier traf ich eine Frau, der es nur
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