Ich haette dich geliebt
draufgestürzt. Auch die großen Zeitungen. Alle Radios. Sogar ein Fernsehsender aus Fernost. Kein Scherz. Das wächst sich zu 'ner riesen Sache aus. Der Bürgermeister höchstpersönlich tritt zurück. Kannst du dir das vorstellen. Die Eltern wurden vom Mob fast gelyncht. Sie stehen unter Polizeischutz. Ich brauche Leute. Sonntag?“
Jonas klang wirklich gestresst.
„Ja, Sonntag bin ich wieder da. Ich meld' mich noch. Sag mir dann, wo es brennt.“
„Sag mal, bist du krank? Du klingst wie hundert?“
„Die Beerdigung und so ...“
Mein Versuch, ihm seine Unsensibilität unter die Nase zu reiben, hatte funktioniert. Er entschuldigte sich brav und legte auf.
Luise war weg. Ich hatte nicht gehört, dass sie gegangen war. Sie muss sehr leise gewesen sein, wenn ich das nicht mitbekommen hatte. Denn meine Ohren waren so gut, dass ich eine Fliege niesen hören konnte.
Was war da wieder passiert? Erst Stefan. Jetzt Luise. Das Ganze warf mich völlig aus der Bahn. Endlich finde ich eine Freundin und dann küsse ich sie. Nicht, dass ich es verwerflich fand. Im Gegenteil, aber ich wäre bis jetzt nie auf die Idee gekommen. Vielleicht würde es schon helfen, weniger Alkohol zu trinken.
Ich war eigentlich froh, dass Luise nicht mehr da war. Es wäre mir peinlich gewesen, neben ihr aufzuwachen. Trotzdem hätte sie eine Nachricht hinterlassen können. Damit nicht so eine unangenehme Situation entstand. Jetzt wusste ich nicht, ob ich ihr aus dem Weg gehen sollte oder nicht. Einfacher wäre es allemal.
Die kalte Dusche half etwas gegen die Gleichgewichtsstörung. An einen Spaziergang oder überhaupt Tageslicht war nicht zu denken. Im Liegen ging es einigermaßen. Wieder stieg Ärger in mir hoch. Ich konnte einfach nicht maßvoll trinken. Von meiner Mutter hatte ich das jedenfalls nicht.
Ich stellte eine Wasserflasche neben mein Bett und schrieb eine SMS an Luise.
--Du hattest es aber eilig?--
Drei Sekunden später piepte es zurück.
--Muss doch arbeiten. Mir ist schlecht.--
--Mir auch. Ich bleib noch liegen. Melde mich.--
--O.k.--
Luise war also kurz angebunden. Das konnte ich auch. Sie hätte ja mal fragen können, ob wir uns später noch sehen. Dann eben nicht. Oder sollte ich sie fragen? Wir waren doch keine Schulmädchen. Und der eine Kuss. Meine Güte! Macht das nicht jeder mal irgendwann?
Der Brief lag auf dem Tisch. Ich musste aufstehen und ihn holen. Ein wenig unentschlossen hielt ich das Papier in der Hand. Wieder überkam mich Angst ob der Fremdheit meiner Mutter.
Für andere, die mit beiden Eltern aufwuchsen, war das vielleicht alles ganz normal. Sie hatten erlebt, wie sich Eltern küssten, stritten und wieder vertrugen. Sie konnten beobachten, wie sich die Mutter auch als Frau an der Seite eines Mannes verhielt. Ich hatte davon ja keine Ahnung. Meine Mutter war meine Mutter und, bis auf die nicht ernstzunehmenden Avancen einiger älteren Herren, keine eigenständige weibliche Person. Jetzt, da ich erfuhr, was ich nie wahrgenommen hatte, nämlich, dass meine Mutter auch geliebt hatte und eifersüchtig gewesen war, wurde ich unsicher. Es war, als nähme man mir die einzige Konstante, die es in meinem Leben gegeben hatte.
Mich überkam neuer Schwindel. Ich musste mich zwingen, viel Wasser zu trinken. Cola wäre mir lieber gewesen. Umständlich schob ich ein Kissen in meinen Rücken und atmete tief durch, bevor ich weiterlas.
Ich durfte nun auch in das Reich meiner Königin. Ich zog so gut wie bei Marlene ein. Nicht offiziell oder so was, sondern so nach und nach. Da eine Zahnbürste, dort ein Strumpf. Du verstehst, was ich meine.
Ansonsten lebten wir eine ganz normale Beziehung. Normal, soweit ich das sagen kann. Sagen wir es mal so. Es war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich mich NORMAL fühlte.
Ich sagte das, was mir in den Kopf kam ... oder auch manchmal nicht. Wir lachten und wir stritten. Wir liebten uns. Alles ohne die geringste Bemühung. Es lief von allein. Wir wollten zusammen sein. Mit guter und schlechter Laune. Wir konnten sogar über den Altersunterschied lachen. Manchmal kannte Marlene Lieder, von denen ich noch nicht mal gehört hatte, oder Filme. Dann sagte sie immer:
„Da warst du noch Quark im Schaufenster.“
Ich fühlte mich nicht jünger als Marlene, und ich glaube, sie fühlte sich nicht älter als ich. Auch wenn ich heute glaube, dass ich naiv war, in meinem jugendlichen Dasein. Sie wird mehr über das Alter und all das nachgedacht haben, als ich. Und sie hatte
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