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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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erkundigen.
    »Wollt Ihr noch ein wenig? Um Euch für den Heimweg zu stärken? Nicht, dass ich wünschte, Ihr würdet Euch auf den Heimweg machen; es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr über Nacht bleiben wolltet, denn das wäre …« Er war ziemlich komisch in seinem kopflosen Bestreben, mich zu bewirten und mir zu schmeicheln.
    »Nein, Thomas«, beruhigte ich ihn. »Ich muss morgen in aller Frühe in London sein.«
    Sein Sohn George kam herein, ganz in Samt gekleidet. Stocksteif blieb er stehen und starrte mich an.
    Er war ein hübscher Bursche von etwa zwanzig Jahren, ganz nach höfischer Mode gekleidet. Ich hatte gehört, dass er komponiere und recht talentiert die Laute spiele. Das sagte ich auch und forderte ihn auf, mir eine seiner Kompositionen vorzuspielen, eine Bitte, die ihn anscheinend in Verlegenheit stürzte. Aber er gehorchte; er verschwand und kehrte einige Augenblicke später zurück, in der Hand eine Laute, die mit Perlmuttintarsien verziert war. Er sang ein Lied, eine klagende Melodie in Moll, die von verlorener Liebe handelte. Es war recht gut. Ich sagte es ihm und meinte es ehrlich. Er zeigte mir sein Instrument; es sei, erzählte er, in Italien gebaut, und ich betrachtete es gebührend.
    Dann erschienen Lady Boleyn und weitere Angehörige des Haushalts; sie begannen ein geschäftiges Treiben und entfachten auch ein Feuer im Kamin, denn es würde nun bald dunkel werden, und die Nächte in den alten Steinburgen sind auch im Juli klamm und kalt. Aber wo war Anne? Aus irgendeinem Grunde brachte ich es nicht über mich, nach ihr zu fragen.
    Die Sonne ging unter, aber das Tageslicht verweilte noch, wie es das im Hochsommer tut. Boleyn redete unaufhörlich auf mich ein und trottete hinter mir her wie ein gelehriges Hündchen. Ich hörte nicht zu und gab gelegentlich eine unverbindliche Antwort. Und noch immer keine Spur von Anne, und bald würden wir uns verabschieden oder ein ausgedehntes, endloses Abendessen erdulden müssen, das man uns zu Ehren auftragen würde.
    Ich wandelte an der einen Seite der Halle an den kleinen bleiverglasten Fenstern vorbei, die den Blick auf den ordentlichen Garten und den Hof der Boleyns eröffneten. Der Bach, der den Burggraben speiste, plätscherte durch den Garten, gesäumt von Trauerweiden. Der Wind regte sich, wie er es am frühen Abend gelegentlich tut, und ließ die Äste schwanken. Die Bäume waren so grün, dass sie fast leuchteten, und ihre Zweige so dünn und peitschenartig, dass sie sich wie lebende Wesen zu schlängeln schienen.
    In diesem Augenblick sah ich sie; sie stand weiter hinten an einer der Weiden: eine schmale Gestalt mit langen schwarzen Haaren, die im Wind wehten und flatterten wie die Zweige um sie herum. Anne.
    Sie trug ein grünes Kleid, hellgrün, und es blähte sich im Wind und ließ sie schwanken wie ein Blumenstängel. Sie hob die Hand und legte sie an einen Ast, und es war die anmutigste Bewegung, die ich je gesehen hatte.
    Ich merkte, dass ich stehen geblieben war und zum Fenster hinausstarrte. Thomas räusperte sich neben mir.
    »Meine Tochter Anne«, sagte er. »Sie lebt wieder daheim bei uns, denn der Kardinal hat sie vom Hof fortgeschickt. Es war höchst ungerecht –«
    »Bestimmt.« Ich drehte mich um und schob mich an ihm vorbei. »Ich will selbst einmal mit Eurer Tochter sprechen.« Die Tür, die in den Garten hinausführte, hatte ich schon entdeckt. Jetzt würde ich mich ihrer bedienen.
    »Ich bitte Euch, begleitet mich nicht«, sagte ich zu Thomas, der mir auf dem Fuße folgte. »Ich will allein gehen.«
    Bevor er Einspruch erheben konnte, war ich im Garten, und ich warf die Tür hinter mir zu.
    Sie musste mich kommen hören, aber sie drehte sich nicht um. Sie kehrte mir den Rücken zu, bis ich kaum zwei Schritt weit von ihr entfernt war. Der Wind war kräftiger geworden; er packte ihre Röcke und ließ sie mächtig wirbeln. Sie trug keine Haube, kein Kopftuch. War ihr nicht kalt? Sie stand immer noch regungslos da; nur das außergewöhnliche Haar umflatterte ihren Kopf.
    »Mistress Boleyn«, sagte ich laut, und sie drehte sich um.
    Was hatte ich erwartet? Ich wusste, sie war nicht wie ihre Schwester Mary, aber auf diese dunkle Erscheinung war ich denn doch nicht vorbereitet.
    Sie sah mich an mit weit offenen Augen, mit großen schwarzen Augen, mit Kinderaugen. »Eure Majestät«, brachte sie hervor, und dann fiel sie auf die Knie wie ein herabsinkender Schmetterlingsflügel. Einen Augenblick lang sah ich nur ihren schwarzen Kopf

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