Ich, Heinrich VIII.
religiöse Freiheit in Anspruch genommen und wäre Einsiedler geworden. Es hätte mir nichts ausgemacht, meine feinen Gewänder und die Wohnung im Schloss aufzugeben. Ein Einsiedler zu sein, ganz allein und niemandem als Gott verantwortlich, kam mir wie ein Luxus vor – ein größerer Luxus als Paläste und Gewänder und königliche Pflichten.
Aber eine solche Ausflucht war mir verwehrt. Ich war König. Deshalb musste ich stets allen zur Verfügung stehen. Ein gewöhnlicher Mensch durfte Einsiedler werden, aber ich – niemals.
Und ein Einsiedler brannte niemals, wie ich es tat. Ich brannte darauf, Anne zu sehen. Und ich brannte vor Verlangen, allerlei zu ändern, mich selbst zu ändern, mein ganzes Leben zu ändern.
Die Händler von Calais kamen zur Audienz in meinen Empfangssaal. Sie redeten nur von Wollquoten und Devisenkursen und langweilten mich ganz ungemein. Als der Lärm auf ein unerträgliches Maß anschwoll, bat ich, mich für einige Augenblicke in meine inneren Gemächer zurückziehen zu dürfen.
Als ich dort weilte, drangen Stimmen von draußen an mein Ohr. Ein öffentlicher Gang grenzte an die Empfangsgemächer, und ich hatte die Erlaubnis gegeben, dass die Bediensteten der Wollhändler sich dort aufhielten.
»Nein, aber Seine Majestät muss unsere Interessen in Calais schützen«, sagte eine Stimme mit hohem und unangenehmem Klang.
»Seine Majestät versteht nichts vom Handel oder vom Finanzwesen«, erwiderte eine andere; diese klang sanft und kundig. »Der Kardinal kümmert sich um all das. Da bewirbt man sich besser um eine Stellung bei ihm, oder?«
»Der Kardinal ist nicht der König«, versetzte eine dritte Stimme, tief und sarkastisch, »auch wenn er sich gern dafür hält. Manches im Leben birgt Überraschungen, und ich glaube, dem großen Kardinal steht demnächst eine ins Haus.«
»Der Kardinal ist niemals überrascht«, wandte die zweite Stimme ein.
»Der Kardinal ist intelligent«, räumte die dritte Stimme ein. »Aber Intelligenz ist nicht … wie soll ich es sagen? Es gibt noch eine Intelligenz jenseits der gewöhnlichen Intelligenz. Damit meine ich die Fähigkeit, vorauszusehen, wie die Dinge sich entwickeln werden, sie zu sehen, wie sie sind, und zu wissen, welchen Verlauf sie nehmen werden. Dem Kardinal ermangelt es in betrüblichem Ausmaß an dieser Fähigkeit. Er sieht das Unmittelbare, aber darüber hinaus sieht er nichts.«
Ich muss bekennen, dass ich inzwischen die Ohren spitzte, um dieses außergewöhnliche Gespräch mit anzuhören. Man darf nicht vergessen, dass seit mehr als fünfzehn Jahren niemand mehr gewagt hatte, mir gegenüber offen zu sprechen. »Aber damit geht es ihm immer noch gut genug.«
»Vorläufig«, sagte die dritte Stimme. »Aber ich prophezeie euch, dass es nicht von Dauer sein kann.«
»Wieso nicht?«, fragte die zweite Stimme.
»Du weißt ja gar nichts!«, warf die erste Stimme nörgelnd ein. »Sitzt doch weit hinten in Calais! Bist das erste Mal bei Hofe, nicht wahr?«
»Aye«, sagte die tiefe dritte Stimme.
»Dann kennst du nichts außer stinkender Wolle und einer gelegentlichen königlichen Visite. Diese Leute aber sind anders. Sie denken anders, benehmen sich anders …«
»Was für Leute, Rob?«, fragte die dunkle Stimme.
»Die Leute bei Hofe, du Narr!«
»Dann bist du selbst ein Narr. Sie sind wie du.« Eine Pause trat ein. »Jawohl, auch der König. Er mag aussehen wie Apollo, der zur Erde herabgestiegen ist, er mag Reichtümer besitzen, welche die deinen in den Schatten stellen – aber er ist nur ein Mensch. Mit vielen Sorgen, Sorgen, welche die deinen in den Schatten stellen. Überdies muss er sich des Nachttopfes bedienen, wenn er aufsteht.«
Darüber lachten sie alle.
Sie stellten sich also vor, wie ich mich des Nachttopfes bediente? Der Gedanke war beleidigend. Ich drückte mich dichter an die Tür, um besser hören zu können.
»Wir alle benutzen Nachttöpfe«, sagte die erste, unangenehme Stimme. »Wenn nicht, sind wir tot. Was beweist das?«
»Nichts. Du hast Recht, Nicholas«, der erste hieß also Nicholas, »der Nachttopf ist etwas, das wir alle brauchen. Zweifellos musste sogar Unser Herr sich erleichtern, als er auf Erden weilte. Das hat ihn nicht davon abgehalten, Seine frohe Botschaft zu verkünden.«
Wieder die dritte Stimme. Wer war dieser Mann? Ich war entschlossen, ihn kennen zu lernen. Zu behaupten, dass Unser Erlöser …! Aber Er war ganz Mensch geworden; hatte die Kirche es nicht so entschieden? Und dann
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