Ich, Heinrich VIII.
beharrlich. »Es ist einsam, so allein zu trinken.«
Sie nahm einen kleinen Schluck und bat mich dann, sie zu entschuldigen, als sei sie schüchtern. Ich beobachtete sie, wie sie zum Fenster ging und hinausschaute.
Wann war Anne endlich fertig? Auf der anderen Seite des Hofes hörte ich meine Lieblingsuhr – die große astronomische Uhr im Torturm – neune schlagen. Die Stimmen aus der Taverne waren lauter geworden, ihre Rede undeutlicher. Ich ging zu der Kammerfrau hinüber, die versunken über die Dächer schaute. Sie hatte ein reines, klares Profil.
»Schaut Ihr jemals …«, hob sie an und zauderte dann.
»Jemals was, Mistress?« Überrascht hörte ich, wie gereizt meine Stimme klang. Aber ich war bereit, Anne zu sehen! Wieso ließ sie mich warten?
»… jemals … jemals über diese Dächer hinaus und spürt dabei mit Gewissheit – mit mächtiger, neidvoller Gewissheit –, dass all die Menschen, die dort schlafen, oder die dort leben … glücklich sind?«
Ohne Zögern stimmte ich ihr zu. »Doch. Ich bin dessen sicher.« Jemand hatte tatsächlich das Gleiche empfunden; jemand verstand …
»Und wünscht Ihr Euch jemals, dort zu sein, in diese Eingangsdiele dort zu treten – die voller Lehm ist – und zu hören, wie Eure Mutter jemanden schilt, weil er nicht genug Holz gebracht hat, und zu wissen, dass es dort warm und unbehaglich ist?«
»Ihr meint behaglich«, korrigierte ich sie.
»Nein, ich meine unbehaglich. Es ist immer warm und unbehaglich. Die beiden gehören zusammen, und man hasst sich dafür, dass man das eine schluckt, weil man nach dem anderen hungert. Und …«
»Mein Lord!« Die unverwechselbare Stimme drang an mein Ohr, die Stimme, nach deren Klang ich mich gesehnt hatte. Meine Augen wandten sich in die Richtung, aus der sie kam. Anne stand an der Tür zu ihrem inneren Gemach. Ihr Gesicht war verborgen, aber ihre Stimme war unwiderstehlich. Ich wandte mich von meiner Gesellschafterin ab.
Anne zog mich lachend zu sich hinein und warf die große Tür dröhnend ins Schloss. Sie sah strahlend aus, und ihre Bewegungen waren flink und sicher. »Ich habe es endlich!« Sie wirbelte herum. »Das Kleid. Es ist perfekt!«
Wieder lachte sie. »Ein Kleid, das niemand je vergessen wird. Erinnert Ihr Euch, wie Wolsey mich eine ›Nachtkrähe‹ nannte, weil ich schwarzes Haar hatte und ein schwarzes Gewand trug? Jetzt will ich, dass alle Leute mich ebenso strahlend sehen, einer wahren Königin gleich, in Weiß. Wolsey und das nachtschwarze Gewand waren die Finsternis. Dies aber soll der gleißende Mittag sein.«
Und die ganze Zeit schwebte sie über die polierten Holzdielen dahin, als habe sie keine Füße. Der kräftige Mond und die Fackeln spendeten Licht, und doch war ihr Spiegelbild in dem geölten Holz nur ein flüchtiger Schimmer, den sie niemals berührte.
»Nein, ich kann Euch nicht zeigen, wie es aussieht!«, lachte sie, als wir ihr innerstes Gemach erreicht hatten. »Ich habe es gut versteckt. Ich will, dass Ihr ebenso geblendet seid wie alle anderen!«
Geblendet war ich schon jetzt. Sie stand mitten im Zimmer, ganz und gar Schönheit und Dunkelheit und Licht. Kein Grund, sich für das zu hassen, was man erwählte. Sie zu erwählen, bedeutete, alles zu bekommen.
Die Krönung war keine einzelne Zeremonie, sondern eine verschachtelte Folge von Zeremonien, eine in der anderen, und im Mittelpunkt stand der kostbare Augenblick der Salbung in der Westminster-Abtei. Zuerst musste Anne auf dem Wasserwege zum Tower gebracht werden, wo sie übernachten würde. Vom Tower aus würde sie dann in einer Sänfte durch die Londoner Straßen getragen werden, damit sie sich dem Volke zeigen könnte. Am Tag darauf würde sie gekrönt werden. Und die folgende Woche wäre für alle Welt Feiertag.
Sorgfältig erklärte ich Anne das Protokoll eines jeden dieser Ereignisse, und Anne hörte rastlos und mit glitzernden Augen zu.
»Die Wasserprozession wird ein Volksfest werden. Die Themse ist viel breiter als jede Straße; sie bietet Platz für großartigen Festschmuck, für ein Feuerwerk, ja, für Kanonensalut. Bunter kann es nicht zugehen. Hast du schon jemals einen königlichen Wasserkarneval gesehen?«
»Nein. Nur die geschmückten Boote, die wir an Himmelfahrt in Norfolk hatten, als ich noch ein Kind war.«
»Pah!« Fingerschnipsend wischte ich derlei beiseite. »Der Bürgermeister hat mir erzählt, es soll sogar ein Drache auf dem Wasser schwimmen, mit einem mechanisch schwingenden Schweif und
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