Ich, Heinrich VIII.
einen Sohn haben, und was ist schon ein Jahr nach all der Zeit, die Ihr schon gewartet habt?«
»Die ich schon verschwendet habe, meint Ihr wohl?« Ich wusste genau, was er meinte. Aber das alles war ja nur Geräusch vor dem Hintergrund der großen Frage: Warum hatte Gott dies zugelassen? Warum, warum?
»Nicht verschwendet. Nichts, was der Vorbereitung dient, ist je verschwendet. Ihr habt diese Zeit gebraucht, um England für Eure Kirche vorzubereiten. In dieser Hinsicht haben sich die Dinge mit großer Schnelligkeit entwickelt. Vor zehn Jahren wart Ihr gerade erst vom Feld des Goldenen Tuches zurückgekehrt. Denkt doch, wie die Welt damals aussah. Heute ist sie völlig verändert. Neu gestaltet durch Eure Hand und Euren Willen.«
»Und durch den Willen Gottes.«
»Und durch den Willen Gottes.« Pflichtschuldig gab er dem Herrn, was dem Herrn gebührte, und strebte dann weiter seinem wahren Ziel entgegen. »Aber diese Errungenschaften müssen per Gesetz konsolidiert werden.«
»Das sind sie schon«, grunzte ich. »Das Parlament hat dafür gesorgt.«
»Ich meine explizite Gesetze. Lasst mich offen sprechen. Im Augenblick habt Ihr zwei Prinzessinnen von zwei Ehefrauen und einen Sohn von einer Mätresse. Wie soll nun ein braver, ehrlicher Engländer sich zwischen den dreien entscheiden? Alle drei erheben Anspruch auf seine Loyalität oder auf seine Vernunft. Maria ist siebzehn, und sie ist das Kind, vor dem er – jener mythische ›gemeine Engländer‹ – gewohnt ist, das Knie zu beugen. Heinrich Fitzroy, Bessie Blounts Sohn, ist ein prächtiger Junge, und manch ein Bastard hat schon auf dem Thron gesessen. Und schließlich« – seine Miene wurde betrübt – »haben wir Elisabeth. Einen Tag alt. Welches Kind, Euer Gnaden, würdet Ihr unterstützen?«
»Nicht Elisabeth. Die beiden anderen haben zumindest das Kindesalter überlebt. Sie wäre am wenigsten wünschenswert.«
»Genau. Und deshalb müsst Ihr jedem nennenswerten Engländer, der ansonsten in seinem Herzen vielleicht Maria oder Heinrich anhängen würde, einen Gefolgschaftseid abnehmen. Nur dann …«
»Wenn ich doch einen Sohn hätte!«, rief ich aus. »Warum ist Elisabeth kein Sohn? Warum hat Gott nicht …«
»Weil er nicht hat«, stellte Crum kalt fest. »Und damit müssen wir arbeiten.«
Der Eid war leicht erdacht. Jedermann musste – bei seiner unsterblichen Seele – schwören, die Prinzessin Elisabeth als meine einzige rechtmäßige Erbin anzuerkennen. Das war alles. Jeder erwachsene englische Untertan musste diesen Eid schwören. Crum hatte Recht: Wäre ein solcher Eid schon in früheren Generationen erdacht und unters Volk gebracht worden, hätten sich die Dynastiekriege verhindern lassen.
»Aber das ging nicht, Euer Gnaden«, erinnerte er mich wohlgelaunt. »Denn damals gab es keine Administratoren, wie Ihr sie heute habt. Die großen Lords des Nordens und des Westens waren wilde Tiere, die knurrend um den Thron strichen. Ihr habt sie gezähmt und stubenrein gemacht, Euer Gnaden, als Ihr den Herzog von Buckingham hinrichten ließet. Jetzt sind es Bezirke. Verwaltungsbezirke«, fügte er geringschätzig hinzu. »O Grenzmark-Lord, wo ist dein Stachel?«, krähte er. »Bravo, Euer Gnaden. Vor diesem simplen, süßen kleinen Eid strecken sie die Waffen. Was immer das kosten mag – Büttel, Schreiber –, verglichen mit einem Krieg ist es eine große Ersparnis. Ein paar Verhaftungen, ein paar Hinrichtungen – alles auf ordnungsgemäße Weise – und billig.«
»Ich möchte einen Erben, den das Volk von sich aus liebt, nicht einen, dem es widerstrebend Treueeide murmelt.«
Crum lächelte. »Eine schöne Vorstellung. Aber nicht einmal dem Christkind ist solches gelungen. Können wir da mehr erhoffen?«
»Wenn Herodes Euch als Sekretär gehabt hätte, dann wäre die Heilige Familie nicht nach Ägypten entkommen.«
»Das denke ich auch gern, Euer Gnaden.«
LIV
A nne kam – für ein so feuriges Geschöpf – nur langsam wieder zu Kräften. Ich hatte erwartet, sie werde vom Kindbett schnurstracks in den Salon zurückkehren, doch das tat sie nicht. Zuerst bekam sie ein Milchbein und musste tagelang in einer Schlinge liegen – in einer seidenen Schlinge, aber einer Schlinge gleichwohl. Nichts außer Mark Smeatons Lautenspiel vermochte sie in diesen Stunden zu trösten. Dann wurde sie melancholisch und lag stundenlang mit leeren, ausdruckslosen Augen da.
Melancholie ist das seltsamste aller Leiden, und keines auch ist schwieriger zu
Weitere Kostenlose Bücher