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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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ist müde …«
    Müde! Natürlich war Anne müde! Ich schob die Frauen zur Seite und öffnete eigenhändig die mächtige Tür.
    Der Raum dahinter schien verlassen zu sein. Wein und Fröhlichkeit hatte ich erwartet, tanzende Menschen. Dies war ein herrlicher Tag, ein Festtag für das ganze Königreich. Das letzte Mal, dass ich einen lebenden und gesunden Sohn gehabt hatte, lag mehr als zwanzig Jahre zurück.
    Stäubchen tanzten in den Sonnenstrahlen. Die Welt selber tanzte, kein Zweifel! Stocksteif blieb ich stehen; schierer Überschwang ließ mich die Füße fest auf den Boden stellen, den Kopf in den Nacken werfen und ausrufen: »Ein Sohn!« Dann rannte ich los; ich galoppierte wie ein kleiner Junge über die gebohnerten Dielen des lang gestreckten Raumes, meiner Frau und meinem Erben entgegen. Ich hüpfte über schräge Sonnenstrahlen und erreichte dann die letzte, innere Tür. Als ich sie aufriss, packte mich jemand beim Arm. Eine Dienerin. Ich schüttelte sie ab wie ein lästiges Hündchen und stürzte ins Zimmer.
    »Anne!«
    Sie lag in den Geburtskissen, mächtigen, mit Gänsedaunen gefüllten Rundlichkeiten, die eigens für diese Gelegenheit gefertigt worden waren. Ihr sonst so schönes dunkles Haar war feucht und verfilzt, und ihr Gesicht war ernst. Sie wollte die Hand nach mir ausstrecken, ließ sie aber gleich schlaff auf die Bettdecke fallen.
    Ich nahm sie und bedeckte sie mit Küssen. »Danke«, hörte ich mich sagen. »Ich danke dir, meine Geliebte.«
    »Heinrich …«, begann sie, doch ich fiel ihr ins Wort. Sie sah so müde aus.
    »Ich weiß, es war schwer für dich«, plapperte ich, und alle Bangigkeit, die ich empfunden hatte, ertrank in einem Wasserfall aus Aufregung und Dankbarkeit. »Bitte ruh dich aus. Sprich nicht.« Ich sah mich um. »Wo ist er?«
    Ich erhob mich von meinen Knien und sah nicht, dass Anne in einem matten Versuch, mich abzulenken, mit der Hand wedelte.
    »Hier, Euer Gnaden.« Eine von Annes Zofen streckte mir ein dunkelrot umwickeltes Bündel entgegen.
    Tief darinnen steckte das Gesicht, nach dessen Anblick ich mich so sehr gesehnt hatte. Ich zupfte die Umhüllungen ein wenig beiseite.
    »Das Rot der Tudors!«, rief ich aus. »Er hat das rote Haar der Tudors!«
    »Sie, Euer Gnaden«, murmelte die Zofe. »Die Königin hat Euer Gnaden ein schönes Töchterlein geboren.«
    Ich starrte in das geschlechtslose kleine Antlitz. »Eine Tochter?«
    »Aye. Gesund, und schon sehr eigensinnig.« Die Dame strahlte jetzt. Ich wandte mich wortlos an Anne.
    »Verzeih mir«, wisperte sie.
    Dann stimmte es! Das Ding in meinen Armen war tatsächlich ein Weib! Fast hätte ich es voller Abscheu zu Boden geschleudert. Ich beherrschte mich und reichte das Bündel der Zofe.
    Anne schaute mich beschwörend an. Noch nie hatte ich sie so niedergeschlagen gesehen.
    »Ich wusste es nicht«, begann sie, und ihre Augen schwammen in Tränen. »Die ganze Zeit – deine Wünsche … die Versicherungen der Wahrsagerinnen … was Gott für England braucht … die Kränkung des Papstes – und das alles nur für ein weiteres unnützes Mädchen!«
    Sie war so unglücklich wie ich. Wir waren beide Opfer eines unseligen Geschicks. Anstelle von Zorn spürte ich den Wunsch, sie zu trösten.
    »Sei nicht traurig«, sagte ich. »Sie ist ein schönes Kind. Wir werden sie auf den Namen unserer beiden Mütter taufen – Elisabeth. Und sie wird Brüder bekommen, da fürchte nichts.«
    Chapuys, der schadenfrohe kaiserliche Gesandte, lauerte draußen vor der Tür, um mir zu Elisabeths Geburt zu »kondolieren«. Aber ich ging wie benommen an ihm vorbei zur Kapelle, ohne mich um ihn zu kümmern.
    Das Sakrament war in der Monstranz. Ich sah die helle Substanz durch das Quarzfenster in dem fein ziselierten Behältnis. Das war der leibhaftige Christus. Ich musste Ihn sehen, Seine Gegenwart wahrnehmen, um Ihm bestimmte Fragen zu stellen – Fragen, die ich beantwortet haben musste.
    Ich kniete auf dem kalten Steinboden nieder und verzichtete auf die reich bestickten Kniepolster, die dort lagen. Ich musste etwas fühlen, musste mich an etwas Wirklichem verankern. In diesem Augenblick war mir, als sei ich selbst nicht wirklich, als sei ich ein schwebender Geist, eine Ansammlung körperloser Empfindungen. Vielleicht ist ein Geist ja im Grunde nichts anderes …
    Ich hatte eine Tochter. Meinen Sohn hatte es nie gegeben. Die ganze Zeit über hatte ich ihn mir vorgestellt, ihm Namen gegeben, mit ihm und durch ihn gelebt, und dabei war er

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