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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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befohlen, sich in Sicherheit zu bringen. Deshalb müsst Ihr die nötigen Schriften und Bücher auswählen, die mitzunehmen sind.«
    Sie machte ein mutloses Gesicht. »Ich bin keine Gelehrte.«
    »Die Pest betraut viele mit Aufgaben, die ihnen fremd sind.« Ja, die Pest hatte eine schreckliche Reinigungswirkung; unerfahrene Männer und Frauen stürzten sich auf frei gewordene Positionen über ihrem bisherigen Stande. Priester wurden plötzlich zu Bischöfen, Lehrlinge zu Herren, Rossknechte zu Stallmeistern.
    »Tom Seymour kommt mit«, fügte ich hinzu. »Edward wird männliche Gesellschaft brauchen. Er war bis jetzt allzu ausschließlich von Frauen umgeben. Bei der Heiligen Maria, sein Onkel Tom ist so weit entfernt von weibischer Art wie nur irgendeiner, den ich kenne.« Ich sagte nicht, dass er meiner Meinung nach nur in der äußeren Ausstattung ein Mann war; für einen Fünfjährigen würde das Äußere genügen.
    »Er war einverstanden?«, fragte sie.
    Oh, diese Unschuld! Einverstanden? Es hatte nichts mit »Einverständnis« zu tun. Mir schuldete man Gehorsam, nicht Einverständnis.
    »Er wird es sein«, erwiderte ich trocken. »Ich könnt’ darauf zählen, dass er dabei sein wird.«

    Früh am Morgen, noch bevor die Totenkarren ausgefahren waren, verließen wir Baynard’s Castle, wohin wir uns nach der ersten Pestattacke geflüchtet hatten, und ritten auf die St.-Pauls-Kirche zu. Die großen Häuser an der Themse lagen dunkel und still. Hier und da waren Kreuze auf den Türen zu sehen. Aber alles in allem schien die Gegend nicht besonders schwer getroffen zu sein. Erst als wir uns der Stadtmauer näherten und uns beim St. Paul’s Hill, wo die Häuser kleiner waren und dichter beieinander standen, nach Westen wandten, nahm die Zahl der Kreuze zu, bis schließlich fast jede Tür eines trug. Und als der St. Paul’s Way nach links in Ludgate Hill einmündete, unmittelbar vor dem Lud-Gate genannten Stadttor, sah ich ihn: einen Leichenberg.
    Ich hielt den Atem an, denn es war bekannt, dass schon die Luft rings um ein Pestopfer ansteckend war. Ich winkte meinen Begleitern, es mir nachzutun. Ich wollte keinen von ihnen verlieren: nicht Will, nicht meinen alten, vertrauten Dr. Butts, nicht Lady Latimer, nicht einmal den großsprecherischen Tom Seymour. Und was Edward betraf: Er war mein Leben.
    Die Leichen waren nackt. Ihre Gliedmaßen ragten aus dem Haufen wie die abgebrochenen Äste umgehauener Bäume. Die zuunterst lagen, waren schon dunkel und fingen an zu verwesen; die oberen sahen so lebendig aus, dass man sie gar nicht für tot hätte halten mögen. Das war die Pest: Sie hauchte den Menschen an, und er atmete nicht mehr, blieb aber auf das Schönste erhalten … für ein Weilchen. Die Fliegen saßen dick auf dem unteren Teil des Haufens; sie brummten obszön und wimmelten in irisierenden Wellen auf ihrem Fraß. Zuoberst, wie ein Opfer auf dem Altar, lag eine nackte Maid, bleich und liebreizend; das goldene Haar diente ihr als Leichenhemd. Noch während wir vorüberzogen, kletterten dem Tode trotzende Aasgeier auf den Menschenberg und wühlten nach Juwelen.
    Draußen vor dem Stadttor waren Männer dabei, Gräben auszuheben. Man würde die Toten dort hineinwerfen, bis an den Rand der Gräben, und dann ein wenig Erde darüber häufen. Wer es wagte, mit den Leichen zu hantieren, folgte ihnen oft selbst innerhalb weniger Stunden nach. Als ich sie sah und ihren Schweiß roch, wusste ich, sie waren tapferer als irgendeiner von König Arthurs Rittern. Wovor Galahad geflohen wäre, was Lancelot ganz gemieden hätte, nahmen diese Männer auf sich, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Plötzlich fiel mir ein, dass ich nicht wusste, was aus Holbeins Leichnam geworden war. Hatte man sich ordnungsgemäß um ihn gekümmert? Bestimmt!
    Will:
    Nein. Holbein kam just in eines dieser Massengräber, wo er Wange an Wange mit einem Schankwirt oder einer Amme vermoderte; ihr Staub hat sich inzwischen vermischt.
    Die Pest brachte moralische Veränderungen in allen Aspekten des Lebens zutage. Nachbarschaftliche Gefühle verflogen, da jedermann die Kranken floh und sich weigerte, sie anzurühren, sodass zur Pflege der Sterbenden nur Erpresser übrig blieben, deren Geldgier ihre Angst in den Schatten stellte.
    Die Pest – und die Angst vor ihr – erfüllte die Menschen mit solchem Grauen, dass sie sich ganz vergaßen und ihrer wahren Natur die Herrschaft überließen. Die Sieben Todsünden, gleißend und gigantisch, wurden in jedem

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