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Ich, Heinrich VIII.

Ich, Heinrich VIII.

Titel: Ich, Heinrich VIII. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret George
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tranken die Gerüche eines Junimorgens, derweil der Tau auf den Bartnelken und Schnittlauchblüten im Schatten blinkte. Edward und Kate Parr zogen sich dann zum täglichen Unterricht zurück; Tom stöberte rastlos über das Anwesen und durch das benachbarte Dorf; Will und Dr. Butts gingen spazieren und diskutierten über politische und medizinische Fragen. Und ich? Ich bemühte mich, die Geschäfte der Außenwelt zu führen und mit dem Staatsrat und dem Kontinent in Verbindung zu bleiben. Wenn ich so in meiner kleinen Dachkammer saß, konnte ich kaum glauben, dass irgendetwas, das ich sagte oder tat, über diese vier Wände hinausdringen könnte.
    Das Mittagsmahl war eine träge, ausgedehnte Angelegenheit und bestand aus heimischer Kost: Salat aus Zwiebeln, Lauch und Löwenzahnblättern, gebratener Lerche und Taubenpastete, Kirschen mit Sahne und gewürztem Wein. Wie lange saßen wir dann oft auf unseren Stühlen an dem grob behauenen Tisch im steingepflasterten Hof und wollten nicht wieder aufstehen, sondern plauderten frei über so viele Dinge. Die Nachmittage gehörten langen Streifzügen, oder wir musizierten oder widmeten uns der Amateurphilosophie. Wenn zum Abend die Schatten länger wurden, versammelten wir uns in der größten Kammer im oberen Stockwerk, um dort das Abendgebet zu sprechen. Ich leitete die Andacht, wählte die Psalmen aus und sprach einfache Gebete, und so war es ein geziemender Tagesabschluss.
    So sanft, diese Tage und Stunden. Ich genoss sie, ohne auch nur zu merken, welch ein Balsam sie für mich waren. Aber allmählich bewegte ich mich müheloser; meine steifen Gelenke und stets wunden Beine waren bald geschmeidig und schmerzfrei. Wohl ächzten sie unter der Last meines massigen Wanstes (welcher nicht abnahm), und manchmal rebellierten sie, indem meine Knie mitunter ganz überraschend einknickten – aber alles in allem genas ich doch und gewann meine Gesundheit wieder.
    Die Abende verbrachten wir gemeinsam in einem der Gemächer oder auch allein, ganz wie es einer wünschte. Es gab keine Regeln, kein Protokoll, keine Erwartungen. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich davon frei.
    Täglich besuchte ich Edward und forderte ihn auf, mir zu berichten, was er gelernt hatte. Es war meine private Komplet, wenn ich mir anhören konnte, wie mein fünfjähriger Sohn mir eine Zusammenfassung des vergangenen Tages gab. Oft musste Lady Kate ihm auf die Sprünge helfen, aber nicht immer. Sie gingen gelassen miteinander um; in ihrer Gegenwart (wenn auch, wie ich zugeben muss, nicht immer in der meinen) zeigte Edward sich sanftmütig und selbstbewusst.

    Jenseits zweier Äcker, hinter den verlassenen Bienenstöcken, stand die große Scheune, in der Sir John damals Janes Verlobungsschmaus hatte auftragen lassen. Dort stand sie groß und leuchtend vierzehnmal im Sonnenuntergang, ehe ich wagte, hinzugehen. Ich sage »wagte«, weil ich Angst davor hatte. Die Erinnerungen, die dort erwachen würden, Erinnerungen an liebe Dinge, die verloren waren … Aber hier zu sein, hier zu wohnen und nicht hinzugehen, das erschien mir wie Feigheit und Sakrileg zugleich, und das durfte ich mir nicht gestatten.
    So kam es, dass ich mich nach einem fröhlichen Abendessen – Edward hatte in einem Bach nahe der unteren Weide einige Fische gefangen – und vor der Schlafenszeit und meiner unorthodoxen Komplet auf einen Spaziergang begab: Ich schlenderte zu der Scheune und schloss meinen Frieden mit ihr. Ich sage »schlenderte«, weil mein Bauch kaum anderes ermöglichte.
    Die Sonne strebte eilends zur Ruhe, als ich auf dem schmalen Pfad dahinwanderte. Die eigentümlich langen, schrägen Strahlen fielen über alles, sie beleckten die Felder, das Korn, das Dach der Scheune.
    Es war auch um diese Jahreszeit gewesen, dass wir dort geschmaust hatten. Die Dämmerung dauerte lange, und brennende Fackeln hatten überall am Wegesrand bis zur Scheune gestanden – aber an dem Tag war es keine Scheune gewesen, sondern ein Feenpalast. Die Fachwerkwände waren mit Seide verhangen gewesen, Blumengirlanden hatten vom Dach geweht, und drinnen hatte man einen eichenen Boden gelegt und lange Tische aufgestellt, mit Linnen gedeckt und mit goldenem und silbernem Geschirr geschmückt.
    Jetzt schaute ich hinein und sah die Scheune, wie sie war: ein Lehmboden, mattes Licht, Kuhdunst. Der Zauber war verschwunden, weitergezogen an einen anderen Ort, zu anderen Menschen.
    Ich setzte mich auf eine kleine Bank an der Wand, lehnte mich zurück und

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