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Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode

Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode

Titel: Ich Ich Ich - wir inszenieren uns zu Tode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Bergmann
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Lebensform, aber sie nimmt nicht jeden Skandalisierungsvorschlag auf. Die meisten Erregungsvorschläge werden abgelehnt oder mit mäßigem Interesse studiert.« 10 Welche verfangen, weiß Sloterdijk aus eigener Erfahrung. 1999 löste seine Rede »Regeln für den Menschenpark« nicht zuletzt wegen der provokanten Begriffswahl eine heftige Debatte über Gentechnik und Biopolitik aus. Zehn Jahre später blies er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum »antifiskalischen Bürgerkrieg« und schlug vor, die »Zwangssteuern« in freiwillige »Geschenke an die Allgemeinheit« umzuwandeln, was wiederum ein Rauschen im Blätterwald nach sich zog.
    Manch einer kalkuliert kühl mit der öffentlichen Empörung, andere provozieren aus Überzeugung oder Dummheit und kommen so in die Schlagzeilen. Der britische Sänger und missionarische Vegetarier Morrissey soll bei einem Konzert in Warschau – zwei Tage nach dem Massaker des Terroristen Breivik in Norwegen – seinen Song »Meat is Murder« (Fleisch essen ist Mord) folgendermaßen anmoderiert haben: »Wir leben alle in einer mörderischen Welt, wie die Ereignisse in Norwegen und 97 Tote (die Zahl der Opfer des Massakers wurde später auf 77 Menschen korrigiert) zeigen. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was jeden Tag bei McDonald’s oder Kentucky Fried Shit passiert.«
    Eine Top-Vorlage gab der Weltpresse auch der Regisseur Lars von Trier, der sich bei den Filmfestspielen in Cannes anlässlich der Präsentation seines Films »Melancholia« als Hitler-Versteher outete: »Natürlich, er hat falsche Dinge getan, aber ich kann ihn auch sehen, wie er da am Ende in seinem Bunker hockt. Ich glaube, ich verstehe den Mann. Er ist nicht unbedingt das, was man einen guten Kerl nennt. Aber ich verstehe vieles an ihm und kann mich sogar ein bisschen in ihn einfühlen.« Um auf Nummer sicher zu gehen, krönte er sein wirres Gerede noch mit dem Satz: »Okay, ich bin ein Nazi.« Diesen Verdacht erregte auch der Modeschöpfer John Galliano, der in einer Pariser Bar herumpöbelte und mit einem Paar in Streit geriet. Einem Mitschnitt zufolge, der der britischen Boulevardzeitung Sun zugespielt wurde, hat Galliano zu ihnen gesagt: »Dreckiges Judengesicht, du solltest tot sein.« Und: »Verdammter asiatischer Bastard, dich bring ich um!« Daraufhin wurde er von seinem Arbeitgeber Dior gefeuert und landete vor Gericht.
Selbstentblößung und Penetranz
    Während gewöhnliche Leute nach solchen Aussetzern, dummem Geschwätz oder dem Offenbaren peinlicher Episoden aus ihrem Intimleben darauf hoffen dürfen, dass die Bekanntschaft wegschaut und weghört, kommen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit so etwas unweigerlich groß heraus. Und viele scheinen dieser Versuchung nicht widerstehen zu können – der Trend geht hin zur Selbstentblößung. Das gilt auch für intelligente Leute wie Miriam Meckel, die es eigentlich nicht nötig haben dürften. Die Medienwissenschaftlerin hat eine beeindruckende Karriere gemacht. Mit 31 galt sie als jüngste Professorin Deutschlands, später war sie Regierungssprecherin desdamaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement in Nordrhein-Westfalen und Staatsekretärin. Einem größeren Publikum wurde sie wegen ihrer Beziehung mit Anne Will bekannt. Im September 2008 erlitt Meckel einen Zusammenbruch, ließ sich fünf Wochen in einer Klinik behandeln und begann schon da – statt vernünftigerweise einfach mal abzuschalten – ein Buch über ihre Erkrankung zu schreiben (»Brief an mein Leben«). Darin versucht sie, ihrer zwanghaften Arbeitswut auf den Grund zu gehen: »Wie viele Aufsätze muss ich schreiben, um geliebt zu werden? Wie viele Flugmeilen muss ich pro Jahr absolvieren, um attraktiv zu bleiben?« Und demonstriert gleichzeitig, wie man als Powerfrau standesgemäß mit einer Krise umzugehen hat. Ihre eignete sich ideal dazu, denn sie gilt, wie Meckel selbst schreibt, als Malaise der besseren Kreise: »Das Burn-out gehört zum erfolgreichen Berufsleben wie das Eigenheim zur Vorbildfamilie.« Besonders unter Promis erfreut sich das – von der Weltgesundheitsorganisation nicht als eigenständige Krankheit klassifizierte – Syndrom, das früher vor allem Lehrern in die Frühpension verhalf, neben der Sexsucht wachsender Beliebtheit.
    Ernste Krankheiten sind für Berühmtheiten heikel. Denn neben den damit verbundenen Leiden bedeuten sie, aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, mit der Gefahr, in Vergessenheit zu geraten – für viele die

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