Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
mehrmals die Woche mit dem Rad zur Arbeit und erzählte von Fahrradtouren am Wochenende. So ein Ausdauersport gab Kraft und Schnelligkeit. Gab es ihm auch die Zeit, darüber nachzudenken, Menschen etwas anzutun?
»Jemand hat gesagt, dass sie gesprungen ist«, sagte er.
Livs Blick ruhte weiter auf seinem Gesicht. »Wer hat das gesagt? Wenn jemand das gesehen hat, sollte er das der Polizei sagen.«
Sein Blick wanderte von Ally zu Mariella, die jetzt neben ihr stand. »Ich weiß es auch nicht mehr. Irgendwer drüben bei Lenny. Alle haben darüber geredet.«
Log er, oder verbreitete er nur Gerüchte? Egal, Liv sah das schuldbewusste Entsetzen auf dem Gesicht der Frauen. Sie berührte Mariellas Hand und sah dabei Scott in die Augen. »Sie ist nicht gesprungen. Ich weiß es.«
Sie schloss das Büro auf und fühlte die Stille, die kühle Leere, als sie wieder die Tür hinter sich schloss. Der Anfang vom Ende. Sie stellte ihre Tasche in einen Aktenschrank im Abstellraum – schau doch mal, ob du sie findest, du Spinner – und wählte Kellys Mobilnummer. Sie tat es ganz automatisch, Kelly war nicht da, also rief Liv sie an. Doch als sie auf dem Display des Handys ihr Gesicht sah, legte sie auf, bevor es klingelte. Die Wirklichkeit hatte sie eingeholt, sie keuchte.
Sie hatte so viel verloren, aber nie gedacht, dass sie auch Kelly verlieren könnte. Doch Kelly hatte ihr Prescott and Weeks genommen, und Liv hatte ihren Mann geküsst. Sie war sich nicht sicher, ob eine selbst langjährige Freundschaft so etwas überstehen würde. Sosehr es sie auch danach drängte zu erfahren, wie es Teagan ging, wusste sie nicht, ob sie ohne Bitterkeit und Ärger über die vergangenen achtundvierzig Stunden mit ihr reden konnte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für gegenseitige Beschuldigungen und Vorwürfe, also schickte sie ihr eine SMS : Schick T alles Liebe von mir. Denk an dich. X
Dann setzte sie sich an Teagans Schreibtisch und suchte bei Google nach Scott Saltern.
Er hatte einen recht ungewöhnlichen Nachnamen, darum fand sie ihn schnell. Auf der Website seiner Firma war ein Profil von ihm, und – wer hätte das gedacht – nirgends war von Gewalt oder Stalking die Rede. Sein Name tauchte bei Radrennen auf, an denen er in den vergangenen drei Jahren teilgenommen hatte, und er war auf einem Gruppenfoto mit Rennradfahrern in der Zeitung abgebildet. Sie klickte auf seine Facebookseite, dort gab es Fotos von seiner Frau und seinen drei Töchtern – bei Geburtstagsfeiern, an Weihnachten und am Strand. Er hatte hundertfünfundachtzig Freunde, und seine Posts zeugten vor allem von einer miserablen Rechtschreibung und dem Traum, einmal bei der Tour de France dabei zu sein. Jeder hatte das Recht zu träumen. Das machte ihn noch nicht zum Stalker.
Liv klickte auf ihre eigene Facebookseite. Sie war noch nie ein großer Fan davon gewesen und hatte die Seite nur eingerichtet, weil Kelly darauf bestanden und gemeint hatte, mit sozialen Netzwerken könnten sie ihre Geschäftsbeziehungen erweitern. Doch seit Thomas sie verlassen hatte, hatte sie die Seite nicht mehr besucht, nachdem ein »Freund« eine mitleidige Nachricht gepostet hatte. Seitdem hatte sie beschlossen, dass ihr Privatleben ihre zweihundertfünf Facebookfreunde nichts anging. Doch jetzt überlegte sie, ob der Stalker auch anderweitig nach ihr gesucht hatte.
Sie ging die Nachrichten durch. Ihr war klar, dass ihre Freunde sie seit Monaten aufgegeben hatten, denn seit Weihnachten hatte sie keine Nachrichten mehr erhalten. Alles andere war langweiliges Zeug und hatte nichts mit den Drohbriefen zu tun, die sie vergangene Woche erhalten hatte. Doch das hieß nicht, dass der Verrückte nicht auf ihrem Profil nachgesehen hatte, es bedeutete lediglich, dass er nicht versucht hatte sie auf diese Art und Weise zu kontaktieren. Sie löschte alles – Posts, Nachrichten, Fotos, ihre persönlichen Informationen. Zwar wusste sie, dass man im Internet nichts wirklich dauerhaft löschen und irgendjemand sie immer finden konnte, wenn er sich auskannte, doch wenigstens wollte sie keinen Anlass dazu geben.
Kelly schrieb zurück. » Komme nicht . Tee wird heute am Auge operiert. Streiche meine Termine. Sheridan ist aufgewacht – kann telefonieren. X
Die Nachricht klang nüchtern, doch Liv sagte sich, dass Kelly wahrscheinlich müde und gestresst war. Trotzdem fühlte sie sich noch schlechter. Sie fühlte sich ausgeschlossen, machte sich Sorgen und hatte Angst. Sie hätte sich Kellys
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