Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
zu.«
»Tut mir leid, Dad. Ich verstehe nicht.«
»Ein Mann war hier.« Er machte eine Pause. Diesmal wartete sie ab. »Er hatte eine … eine … wie nennt man das?« Pause. »Ich habe ihm gesagt, dass er verschwinden soll.«
Soviel sie wusste, hatte er dem Krankenhauspersonal des Öfteren befohlen zu verschwinden. Er hasste den Arzt, behauptete, die Putzkräfte seien nutzlos, und hielt mindestens die Hälfte der Krankenschwestern für herablassende Idiotinnen. »Okay.« Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
»Liv, pass auf dich auf.«
So wie er das sagte, die Warnung, die in seiner Stimme lag, ließ sie erschaudern. »Wie meinst du das?«
»Willst du es mir nicht sagen?«
Seine Worte klangen wie das Echo aus längst vergangenen Zeiten. Das hatte er immer gesagt, als sie noch klein war. Er wusste immer, wenn etwas nicht stimmte, und platzte damit heraus, wenn sie es am wenigsten erwartete – beim Abspülen oder bei den Hausaufgaben oder bei ihrem morgendlichen Jogging –, dann sagte er für gewöhnlich: »Willst du es mir erzählen?«
Vielleicht hatte er ihre Stimmung mitbekommen, und so wie sie es schon als Kind getan hatte, hätte sie gerne mit ihm geredet. »Dad, das kann ich dir nicht erzählen.«
»Bist du in Schwierigkeiten?«
»Nicht mit der Polizei.«
»Es sind andere Schwierigkeiten, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht.« Sie sah sich in dem kleinen Zimmer um. »Sieht so aus.«
Sie lauschte lange seinen zischenden Atemzügen, dann sagte er: »Du weißt, was du zu tun hast.«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Er war ganz offensichtlich erschöpft, seine Brust kämpfte mit der Atmung, doch er hatte seinen Blick auf sie geheftet. »Nein, weiß ich nicht. Was soll ich denn tun?«
»Du musst auf dich aufpassen. Hast du verstanden? Du bist die Zukunft. Du und Cameron. Dafür musst du kämpfen.« Er stieß die Worte vehementer hervor, als er das in den vergangenen Wochen getan hatte, dann fielen ihm die Augen zu, und sein Mund wurde schlaff, als wäre seine Batterie leer.
Geballte Wut stieg in ihr auf, Wut auf die Person, die ihn so erschöpft und beunruhigt und ihre gemeinsame Zeit gestohlen hatte. Als ein Gefühl des schrecklichen Verlustes sich in ihr breitmachte, legte sie ihre Wange auf das Laken und lauschte seinem Atem. Sie hörte schnelle Schritte der Krankenschwester im Flur, das leise Schlurfen eines Patienten, ein Lachen weiter hinten auf der Station. Hier fühlte sie sich sicher. Beschützt. Geliebt. Sie wünschte, sie könnte bleiben. Wünschte, ihr Vater würde nicht gehen.
Nach einer Weile wanderte ihr Blick zum Nachtkästchen, dem letzten kleinen Raum, auf den sein Leben zusammengeschrumpft war. Da lagen Karten, eine Bonbondose, ein kleines Radio, seine Brille. Sie setzte sich auf.
Unter der Brille lag ein Umschlag. Er war weiß, ein Geschäftsumschlag. Unbeschriftet.
Sie drehte ihn um, fuhr mit dem Finger unter die Klappe und zog ein Blatt heraus.
Das Blut gefror ihr in den Adern.
39
»Liv, wo übernachten Sie heute?«, fragte Rachel. Sie hatte Liv um ein Gespräch gebeten und vorgeschlagen, es im Auto zu erledigen, damit sie ungestört wären, doch als Liv die großen Scheinwerfer auf dem nassen, fast leeren Parkplatz des Hospizes sah, wuchs ihr Ärger.
»Ich weiß es nicht. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.« Sie konnte an nichts denken, nur an die Worte auf dem Zettel, den sie im Zimmer ihres Vaters gefunden hatte.
Hast du jetzt Angst?
Rachel war zehn Minuten, nachdem Liv ihr eine Nachricht geschickt hatte, aufgetaucht: Angespannt und konzentriert lief sie umher. Nur einmal schien sie ins Wanken zu kommen, als sie plötzlich an der Zimmertür von Livs Vater stehen blieb und etwas Verletzliches durch ihren Blick huschte, das so gar nicht zu einer Polizistin passte. Liv erinnerte sich, dass Rachels Vater erst vor ein paar Monaten an Krebs gestorben war, und ihr wurde klar, dass die Erinnerung daran und der Schmerz kurz in ihr hochgestiegen waren. Dann unterhielt Rachel sich mit dem Personal, ließ den Nachttisch entfernen, damit Fingerabdrücke sichergestellt werden konnten, und sorgte dafür, dass der Sicherheitsdienst des Krankenhauses einen Wachmann schickte und Polizeipatrouillen nachts ihre Runden drehten. Doch heute Abend wollte Liv mehr von ihr.
»Fahren Sie zu Ihrem Haus zurück?«, bedrängte Rachel sie. Sie hatte den Fahrersitz ihres Wagens zurückgestellt, sodass sie Liv ansehen konnte, während sie mit ihr sprach, unter ihrer Jacke
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