Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
enttäuscht hatte? Würde sie irgendjemandem gestatten, sie dazu zu zwingen, ihn im Stich zu lassen?
Ihr Handy klingelte.
»Ich bin’s.« Kelly klang müde, angespannt und etwas wirr.
Livs Schuld- und Verlustgefühle waren noch da, wurden aber nun von Mitgefühl überdeckt. »Oh, Kell. Wie hältst du durch?«
»Mit Kaffee und Muffins.«
»Wie geht es Teagan?«
Kelly holte tief Luft. »Ihr Gesicht sieht schrecklich aus. Ihre Augenhöhle musste wieder aufgebaut werden. Zuerst dachten wir, sie würde das Auge verlieren, aber die Chirurgen scheinen recht zuversichtlich, dass es sich wieder erholen wird. Trotzdem wird sie wohl ein wenig Sehkraft einbüßen.« Bei den letzten Worten schwankte ihre Stimme.
»Kelly, es tut mir so leid. Bitte sag Teagan und deiner Familie meine besten Wünsche. Sie hätte da nicht mit hineingezogen werden sollen.«
»Liv, es ist nicht deine Schuld. Niemand denkt das. Die Polizei war hier, Detective Quest. Wir haben mit ihr über Prescott and Weeks gesprochen. Glaubt sie, dass es vielleicht etwas mit dem Geschäft zu tun hat?«
»Ich weiß es nicht. Wer sind ›wir‹?«
»Jason und ich. Er war gestern im Krankenhaus, als Detective Quest kam. Sie hat vorgeschlagen, dass wir unsere Unterlagen durchgehen und nachsehen, ob wir irgendwas übersehen haben. Eine Auseinandersetzung oder so. Mir fällt aber nichts ein – dir?«
Als Jasons Name fiel, richtete Liv sich auf ihrem Stuhl auf. Rachel hatte mit ihm über das Geschäft gesprochen? Gehörte er zu dem Personenkreis, von dem sie Antworten wollte? »Nein, mir auch nicht.«
»Kannst du heute Abend vorbeikommen? Wir könnten gemeinsam ein paar alte Akten durchgehen.«
Das war eine schlechte Idee – Kelly wusste es nur noch nicht. Liv mit Jason im selben Raum würde das ziemlich schnell verdeutlichen. »Du klingst erschöpft. Da brauchst du nicht auch noch Besuch.«
»Du bist doch kein Besuch. Wir bestellen Pizza und trinken etwas Wein, um den vielen Kaffee auszugleichen. Wir müssen herausfinden, ob es irgendwas gibt, das der Polizei weiterhelfen könnte. Das würde auch Teagan helfen. Sie erinnert sich nicht mehr daran, wie es passiert ist, hat aber große Angst davor, dass die Person immer noch draußen rumläuft. Detective Quest sagte, sogar eine Kleinigkeit könnte ein Auslöser gewesen sein. Ich kann gar nicht glauben, dass es auch jemand sein könnte, mit dem wir gearbeitet haben.«
Es hätte schlimmer kommen können. Sehr viel schlimmer. Aber das konnte sie Kelly auf keinen Fall sagen. Und auf keinen Fall konnte sie mit Jason Pizza essen, ohne sie ihm direkt ins Gesicht zu pfeffern. »Ich bin gerade im Büro. Ich kann die Akten hier durchgehen.«
»Es wäre schön, dich zu sehen, Liv«, sagte Kelly leise. »Ich habe ein schlechtes Gewissen wegen … allem.«
Liv schloss die Augen. Wenn es nur um das Geschäft ging, konnten sie es in Ordnung bringen. Sie konnten sich auf ein paar Drinks treffen, sich aussprechen und nach vorne schauen. Aber es ging nicht nur darum. Was Jason getan hatte, konnte man nicht einfach so auslöschen. Sie aus einer Laune heraus zu küssen, wäre schlimm genug gewesen, aber er hatte seit Monaten vorgehabt, Kelly zu betrügen, und Liv dafür verantwortlich gemacht. Es war ein zerstörerisches Geheimnis, und Liv war sich nicht sicher, ob sie es vor jemandem verbergen konnte, den sie so sehr mochte.
Schlimmer noch, Jason kam sogar als Stalker infrage! Alleine schon der Gedanke daran fühlte sich grauenvoll und unerträglich an, sie konnte ihn unmöglich Kelly gegenüber erwähnen. Doch dann kamen ihr wieder seine Worte in den Sinn – ich wusste, dass du mich irgendwann brauchen würdest . Er arbeitete nur fünf Minuten von ihrem Büro entfernt, gegen zwölf war in der Schule Mittagspause, das war ungefähr die Zeit, in der Teagan gestürzt war.
»Ich habe auch ein schlechtes Gewissen, aber ich kann nicht vorbeikommen. Nicht jetzt. Lass uns ein anderes Mal darüber reden.«
Dem folgte ein langes Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Okay«, sagte Kelly schließlich. Sie klang enttäuscht.
Das hatte Liv nicht gewollt, aber sie konnte und wollte sich nicht verstellen. Nichts war okay. Gar nichts. Aber Liv war nicht bereit für die Folgen, die eine Erklärung ihrerseits hervorrufen würde.
Sie legte auf, verfluchte Jason noch einmal und suchte die Disketten mit den Daten. Sosehr Kelly der Gedanke missfiel, Liv hoffte, es wäre jemand, mit dem sie zusammengearbeitet hatten. Sie wollte nicht, dass
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