Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
was er für sie getan hatte.
»Mom?«
Liv sah zu Cameron herab.
»Kannst du ihn nicht fragen, welches seine Lieblingssorte ist?«, fragte er.
Das Schlimmste war überstanden, sagte Liv sich. Es war fast vorbei.
Seit Wochen war nichts Schlimmes mehr passiert. Sie hatte keine Wutanfälle mehr bekommen, ruhig mit Thomas telefoniert, ohne ihn anzuschreien, und friedlich geschlafen, ohne angsterfüllt aufzuwachen. Der Sturm, der ein Jahr gewütet hatte, schien sich endlich gelegt zu haben. Doch vielleicht wusste sie jetzt einfach auch, dass sie alles bewältigen würde, was das Leben ihr abverlangte, dass ihr Leben sie nicht erdrücken und ihr keine Angst mehr machen würde. Vielleicht hatte ihr Vater das in ihren Augen gesehen. Was immer es war, Camerons Lächeln und die Wärme des klaren, frischen Tages erschienen ihr wie das Licht am Ende des Tunnels.
Liv, es ist nur ein Anruf. Es geht nur um Eis.
Er ging nach dem zweiten Klingeln dran. »Hey, Puncher. Wie läuft’s?«
Nach vier Wochen hatte sie … etwas anderes erwartet. »Es geht mir gut. Danke. Gehst du noch auf Krücken?«
»Ja, aber ich trage keine Schlinge mehr.«
Sie schloss die Augen, spürte wieder die Schuldgefühle in sich aufsteigen. »Ich habe zwei Fragen.«
»Schieß los.«
»Cameron will wissen, ob Feuerwehrmänner Eis essen.«
»Sag ihm, dass das nach einem Feuer sogar sehr empfehlenswert ist.«
»Was ist deine Lieblingssorte?«
»Vanille.«
Sie machte eine Pause. »Dürfte ich dir mal ein Vanilleeis spendieren?«
»Das sind schon drei Fragen.«
»Soll das heißen, dass du das nicht möchtest?«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Nein. Das wäre großartig. Hast du einen bestimmten Zeitpunkt im Auge?«
»Wo bist du gerade?«
»Im Park. An der Rotunde.«
Sie sah aus dem Fenster über die Straße zur Kuppel der alten, kunstvoll verzierten Rotunde. Sie sah Kinder auf Fahrrädern, Jogger, Spaziergänger, Familien, die Fußball spielten. »Was machst du denn im Park?«
»Ich sitze in der Sonne.«
»Warte kurz.« Sie legte einen Finger über das Mundstück und fragte Cameron: »Hast du Lust, in den Park zu gehen?«
»Jaaa«, antwortete er, als wäre es verrückt, auch nur einen Augenblick eine andere Antwort in Erwägung zu ziehen.
Dann sagte sie ins Telefon: »Wir sind in zehn Minuten da.«
Cameron entschied sich für Kaugummieis in der Waffel, während Liv zwei kleine Becher Eis mit Löffeln bestellte – weil es keine so große Schweinerei machte, wenn es schmolz, während sie Daniel suchte. Als sie die Straße überquerten, kamen ihre Erinnerungen wieder zurück, und sie fragte sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich nicht mit ihm zu treffen. Sie war weitergegangen und wollte nicht mehr zurückschauen. Nicht auf Ray.
Also dachte sie daran, wie sie in jener Nacht neben Daniel an die Brüstung gelehnt dagesessen hatte, in Schock, vor Schmerzen keuchend.
»Die Polizei kommt gleich«, hatte er gesagt.
»Wann zum Teufel hattest du Zeit, die Polizei zu rufen?«
»Habe ich nicht.«
Nachdem Ray ihn eingesperrt hatte, hatte Daniel seine Bürotür eingeschlagen, zwischen seinem Werkzeug im Abstellraum ein Messer gefunden und das Klebeband an seinen Handgelenken durchtrennt. Er hatte einen Feuerlöscher benutzt, um das Schloss am Notausgang zu zertrümmern, und sich dann die Fußgängerrampe hochgeschleppt. Die Besitzerin eines Ladens, die gerade auf dem Weg zu ihrem Auto war, hatte versucht ihn aufzuhalten und den Krankenwagen zu rufen. Doch er hatte sie gebeten, stattdessen die Polizei zu alarmieren, und war einfach weitergegangen. Zwischen dem zweiten und dem dritten Stock hörte er Livs Schreie, als sie über das Geländer rutschte. Er dachte, er wäre zu spät gekommen und würde nur noch ihren leblosen Körper auf der Straße finden.
Liv starrte auf die Becher in ihrer Hand. Herrgott, er hatte mehr als ein Eis verdient.
Sie blickte zur Rotunde. Menschengrüppchen hatten sich dort versammelt. Es musste ein Kinderfest in einem Pavillon sein, denn kleine Mädchen liefen in hübschen Kleidchen und lustigen Hütchen herum. Im Gras davor saßen Teenager auf Picknickdecken, und etwas weiter weg stand eine größere Gruppe mit Kindern und Erwachsenen vor einem Tapeziertisch, auf dem ein Buffet angerichtet war. Doch nirgends war ein Held auf Krücken zu sehen.
»Wo ist Daniel?«, fragte Cameron.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er auf der anderen Seite. Wir gehen herum und sehen nach.«
Sie hielten sich an den
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