Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
Am oberen Ende lag der herrliche Hafen von Newcastle, am anderen Ende, fast sechs Kilometer weit entfernt, der großartige alte Park, der der Straße den Namen gegeben hatte. Vor nicht allzu langer Zeit war das hier noch eine heruntergekommene Gegend gewesen, doch als die Gewerbemieten in den Wolkenkratzern der Stadt immer höher stiegen, kauften ein paar Investoren die leer stehenden, vorwiegend verwüsteten Grundstücke und sanierten sie exklusiv. Selbstständige und kleinere Unternehmen zogen hierher und mit ihnen ein Strom Angestellter. So kamen in der Folge Geschäfte und Anwohner zurück. Mittlerweile war die Gegend eine Mischung aus Krawattenträgern und Bewohnern des Viertels, Cafés und Milchbars, Boutiquen, Metzgereien und Feinkostläden.
Heute Morgen waren viele Leute unterwegs. Arbeiter und Mütter mit Kinderwägen, ältere Leute, die zum Einkaufen gingen, und Studenten. Liv hielt nach geschundenen Gesichtern Ausschau und presste ihre verletzte Hand an ihren Körper.
Als sie an einer chemischen Reinigung vorbeikam und sich im Schaufenster sah, erschrak sie. Jahre hatte es gedauert, die Ecken und Kanten ihrer Kindheit restlos zu glätten, und jetzt sah sie mit ihren Verletzungen, den geborgten Klamotten und dem wirren blonden Haar wie die erwachsene Version jenes burschikosen Mädchens aus, das sie schon längst nicht mehr sein wollte.
Die Sonnenbrille war viel zu klein, um mehr als die Piratenklappe vor ihrem Auge zu verdecken; der Rest war für jedermann ersichtlich. Manche Leute warfen ihr verstohlene Blicke zu, andere starrten sie offen an. Was sie wohl dachten? Autounfall? Häusliche Gewalt, davon war auch Daniel Beck ausgegangen. Dachte Detective Quest das auch? Glaubte sie, dass sie sich von ihrem Ehemann verprügeln ließ?
Sie wartete an der Fußgängerampel und beäugte das gegenüberliegende Gebäude, in dem sie mit Kelly ein Büro gemietet hatte. Der Komplex war zuvor ein großer Laden mit Werkstatt gewesen, der jetzt in acht kleine Büros aufgeteilt worden war, allerdings hatte man die zwei Schaufenster zur Straße hinaus erhalten, ebenso wie das Art-déco-Fries am darüber liegenden Apartment. Die Sanierungsfirma hatte außerdem den Ziegelbau verputzt und ihn grau gestrichen, sodass er sich von Lenny’s Café und den Geschäften an der rechten Seite abhob, und die schmale Gasse links daneben sah auch nicht mehr so heruntergekommen aus. Kelly war so begeistert gewesen, als sie es entdeckt hatte, dass sie Liv direkt angerufen hatte.
»Du musst es dir noch heute ansehen. Es ist perfekt. Entspricht genau unserer Preisvorstellung und hat zwei kleine Räume. Es sind zwar eigentlich eher Kämmerchen als Büros, aber dafür hat jede von uns ein eigenes, und für eine Empfangsdame ist auch noch Platz. Oh, und jetzt halte dich fest, hinter dem Gebäude gibt es ein vierstöckiges Parkhaus, es liegt direkt bei der Hintertür.«
Na gut, so praktisch war das mit dem Parkhaus dann auch wieder nicht.
Liv stieß die getönte Glastür zum Eingang auf und senkte ihren Blick auf den mit Teppichboden ausgelegten Flur. Vier Türen auf jeder Seite, lauter identische Büros und lauter unabhängige Unternehmen. Der Notausgang, durch den sie gestern das Gebäude verlassen hatte, lag am anderen Ende des Ganges und war geschlossen.
Die zweite Tür von rechts ging auf, und jemand streckte seinen grauen Schopf mit Haube heraus. »Oh, Livia, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.« Mariella musste in ihrer Perückenwerkstatt gelauscht und auf Liv gewartet haben. Sie breitete ihre Arme aus und kam auf sie zu. Liv zuckte bei dem Gedanken zusammen, dass sie sie genau begutachten und ihr vielleicht sogar einen Kuss aufdrücken würde, wie es durchaus ihrer Art entsprach.
»Keine Sorge, ich tu dir schon nicht weh«, Mariella nahm Livs Kopf in beide Hände und zog sie ein wenig zu sich hinunter, sodass sie zu ihr aufschauen konnte. Entsetzt schüttelte sie den Kopf. »Teagan hat mir erzählt, was passiert ist. Arme Livia.«
»Es geht mir gut«, sagte Liv und schob freundlich Mariellas Finger aus ihrem Gesicht.
»Ray hat gesehen, wie du in den Krankenwagen gestiegen bist. Er hat gestern Abend mit der Polizei gesprochen und den Beamten gezeigt, wo du arbeitest«, erzählte Mariella. »Heute Morgen hat er mir erzählt, was passiert ist. Ich konnte es gar nicht glauben. Nicht unsere Livia.«
»Es geht mir gut, wirklich«, versuchte Liv es erneut. Sie erinnerte sich an die kleine Menschenmenge an der Einfahrt, als
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