Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
dem sie sich befanden, überkam sie wieder. Kelly sollte das nicht alleine abwickeln. Das Callcenter war Livs Kunde gewesen. Sie hatte den Versicherungen geglaubt, dass es sich nur um einen Zahlungsverzug handelte, und Kelly davon überzeugt, weiterhin Personal zu schicken. Zuerst war sie völlig überrascht gewesen, als das Unternehmen Bankrott anmeldete, und dann fassungslos, welche Auswirkungen das auf ihre Firma hatte. Prescott and Weeks standen am finanziellen Abgrund, und wenn sie nicht schnell – sehr schnell – neue Aufträge an Land zogen, würden sie untergehen. Das wäre ein schreckliches Ende ihres Traums und fünf Jahre harter Arbeit. Aber das war noch nicht das Schlimmste.
Ganz zu Anfang hatten beide Paare Schulden gemacht, um den Start zu finanzieren. Kelly und Jason hatten als Sicherheit ihr Haus eingesetzt; Liv und Thomas hatten ihre Finanzierung mit einer Anlageimmobilie abgesichert. Nachdem Thomas gegangen und Liv klar geworden war, dass die andere Frau nicht nur eine Affäre, sondern eine richtige Geliebte war, die er in einem Apartment untergebracht hatte, war sie ausgestiegen. Noch bevor die Einzelheiten der Scheidung ausgearbeitet worden waren, hatten sie alles verkauft – ihr hübsches, zweistöckiges Haus am Strand, das Boot, die Ferienwohnung an der Küste. Liv hatte mit der Hälfte ihres Anteils seinen Anteil am Unternehmen ausbezahlt und sich dann ein Reihenhaus gekauft. Sie hatte keinen Cent mehr, aber ihr gehörte alles, was sie brauchte. Wenn Prescott and Weeks pleiteging, hatte sie keinen Job mehr, aber ein Dach über dem Kopf. Kelly und Jason würden ihr Haus verlieren.
»Nein, ich will dabei sein«, sagte Liv streng. »Ich hole meinen Wagen aus dem Parkhaus, fahre nach Hause, ruhe mich ein wenig aus und komme dann zum Meeting zurück.« In ihrer Tasche fand sie die Medikamente, die man ihr im Krankenhaus gegeben hatte, beschloss aber, ein paar rezeptfreie Schmerztabletten zu nehmen, die sie in ihrer Schreibtischschublade fand. Die waren zwar nicht so wirksam, würden sie aber auch nicht so müde machen, und sie musste sowohl zum Autofahren als auch für das Meeting fit sein. Sie ging zu Teagan am Empfang und nahm das Glas Wasser, das sie ihr entgegenhielt.
»Hast du das Handy gefunden?«, fragte Kelly, nachdem Liv die Tabletten runtergespült hatte.
Teagan legte ein ramponiertes Klapphandy und ein Aufladegerät auf den Tresen. »Ich habe Livs Simkarte hineingetan. Es funktioniert, ist aber erst seit einer Stunde am Netz.«
»Das ist mein altes Handy«, erklärte Kelly, als Teagan ans Telefon ging. »Du kannst es benutzen, bis du einen Ersatz hast.«
»Mein Handy hatte ich ganz vergessen. Danke.« Sie küsste sie und umarmte sie kurz.
»Bist du sicher, dass du fahren kannst?«
Liv testete ihre verletzte Hand. Sie schmerzte, schien aber beweglich genug, um das Steuer zu halten. »Es wird schon gehen.«
»Ich bringe dich noch zum Auto.« Kelly stieß die Türe auf.
»Warte, Kelly«, sagte Teagan. »Toby Wright will dich sprechen.«
Liv und Kelly wechselten Blicke und hoben die Augenbrauen. Toby Wright war Geschäftsführer einer Versicherungsgesellschaft, sie hatten bereits seit Wochen versucht, einen Termin mit ihm zu vereinbaren.
»Er hat von dem Überfall letzte Nacht erfahren und heute Morgen eine Nachricht hinterlassen«, sagte Kelly.
»Geh ran«, sagte Liv. »Und viel Glück. Erzähl mir nachher, was er gesagt hat.«
Vielleicht hatte das Schwein aus dem Parkhaus am Ende ja noch etwas Gutes bewirkt.
8
Der Notausgang am Ende des Flurs ging nach außen auf, als Liv nach der Türklinke griff. Überrascht blickte sie hoch und sah Daniel Beck vor sich, der aus der Sonne draußen hereinkam. Sie trat beiseite, um ihn vorbeizulassen.
Er hob die Augenbrauen, als er ihr Gesicht sah. »Nettes Veilchen haben Sie da, Brutalo.«
»Gefällt es Ihnen?«, fragte sie lächelnd. »Entwickelt sich prächtig, was?«
Er ließ die Tür zufallen und blieb ihr gegenüber im Gang stehen. »Das ist ein richtiges Kunstwerk.«
»Genau wie das«, sagte sie und hob ihre verletzte Hand.
Er sah einen Augenblick sie und dann die Hand an. »Hübsch, wie ich sehe, haben Sie die Armschlinge weggeschmissen.«
Vielleicht waren es die Schmerztabletten, die zu wirken begannen, oder die Tatsache, dass er weder schockiert noch eingeschüchtert zu sein schien, jedenfalls fühlte sie sich besser. »Armschlingen sind was für Weicheier.«
Er zog einen Mundwinkel hoch. »Ich freue mich, dass Sie gesund
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