Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
geschrien. Das hat mich gerettet.« Zuschauer, hört genau hin, dachte sie.
Liv fühlte sich großartig, als sie ins Büro zurückkam. So gut hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt, abgesehen von dem schmerzenden Gesicht und der Hand. Irgendein Schwein hatte versucht ihr etwas anzutun, aber sie hatte sich revanchiert. Teagan sprach in ihr Headset, also ging Liv nur mit hochgerecktem Daumen an ihr vorbei. Kellys Bürotür war zu, doch durch die Glastür sah sie, dass sie vor dem Computer saß, in einer Hand das Telefon und in der anderen die Maus.
Als Kelly und Liv noch mit den Babys zu Hause waren, hatten sie anfangs nur ganz nebenbei von einer Zeitarbeitsfirma gesprochen. Liv hatte darüber gewitzelt, dass sie genügend Freunde hätten, die sicher gerne gelegentlich jobben würden, um so eine kleine Firma zu starten.
»Weißt du noch, wie wir in Wirtschaftskunde immer gesagt haben, dass wir nicht einfach nur so dahinreden, sondern uns mal selbstständig machen wollen?«, hatte Kelly sie erinnert.
»Das sollten wir tun«, hatte Liv gesagt.
Sie hatte an der Uni Personalmanagement als Hauptfach studiert und im Personalbeschaffungswesen gearbeitet, bevor Cameron zur Welt kam – und die Idee hatte sie nicht mehr losgelassen. Sobald sie das Grundkonzept entworfen hatte, hatte sie auch Kelly überzeugt. Kelly hatte Psychologie studiert, aber nach sechs Monaten Klinikdienst die Nase voll und arbeitete als Personaltrainerin. Das Suchen und Vermitteln von Teilzeitjobs für ihre Klienten war ein Schritt in eine neue Richtung.
Beide hatten neun Monate mit der Ausarbeitung der Details verbracht, Liv hatte die Daten zusammengestellt, Geschäftspläne und Vertragsklauseln entwickelt, Kelly hatte sich um die Website und das Logo gekümmert, Marktforschung betrieben und nach Räumlichkeiten gesucht. Zwei Jahre später konnten sie sich ein volles Gehalt auszahlen.
Als Liv jetzt den Empfangsbereich durchquerte, warf sie zufrieden einen Blick auf die Rezeption, hinter der sich die Küche mit der Abstellkammer befand, und auf ihre und Kellys Bürotüren hinten an der Wand. Ihr eigener, wohl organisierter Bereich. Das Büro war nicht elegant, aber es gehörte ihnen, und sie war stolz darauf. Es war der einzige Ort, an dem sie sich in letzter Zeit zu Hause fühlte.
Der Adrenalinschub dauerte ungefähr fünf Minuten, lange genug, um ihren Computer anzuwerfen und zu sehen, dass sie eine Million neuer Mails hatte. Ihr Gesicht schmerzte, als sie die Absender und Betreffzeilen durchging – Kunden, Zeitarbeiter, zwei Mütter von Camerons Klassenkameraden. Alles in Ordnung? Was ist passiert? Kopf hoch! Schlechte Nachrichten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer.
Sie versuchte ein paar zu beantworten, doch mit einer Hand war sie lächerlich langsam. Eine Mail war von Tessa, einer lustigen Rothaarigen und eine ihrer ersten Zeitarbeiterinnen in der Kartei.
Ich wette, du bereust den Tag, an dem du den Spiegel der schwarzen Katze hinterhergeworfen hast! Ich habe gehört, was passiert ist. Du armes, armes Schwein. Nach all dem anderen auch das noch …
Liv klickte sie weg und markierte sie. Das war kein Pech. Das war das Leben. Manchmal lief es mies, manchmal total beschissen. Unter ihrem blauen Auge pochte es. Sie sah mit ihrem unverletzten Auge auf das Foto von Cameron auf ihrem Schreibtisch und schloss das andere Auge, presste den Daumen auf die Verletzung und versuchte den Druck zu lindern.
»Du solltest nach Hause gehen«, hörte sie Kelly in der Tür sagen.
Die Arbeit erledigte sich nicht von selbst. »Wir haben in einer halben Stunde das Meeting mit Neil Brummer.« Neil war von Beginn an ihr Buchhalter. Vor zwei Wochen hatten sie ihn gebeten, die Betriebskosten durchzugehen.
»Er hat den Termin verschoben. Wann hast du das letzte Mal eine Schmerztablette genommen?«
»Das ist schon eine Weile her.« Sie zuckte zusammen, als sie ihre verletzte Hand krümmte.
»Tee«, rief Kelly in den Empfang. »Würdest du Liv ein Glas Wasser bringen? Und wann kommt unser Buchhalter?«
»Um fünf«, sagte Teagan.
Liv sah auf ihre Uhr. Es war Viertel vor eins. Noch über vier Stunden.
»Du siehst nicht so aus, als würdest du bis dahin durchhalten«, sagte Kelly.
Das stimmte vermutlich. »Möchtest du fragen, ob er nicht morgen kommen kann?«
»Nein, ich möchte wissen, was er zu sagen hat. Aber ich kann das auch alleine erledigen und später mit dir darüber reden.«
Das wohlbekannte Schuldgefühl über das gottverdammte Chaos, in
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