Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
Er wusste, wo sie wohnte. Aber die Bullen hatten keine Ahnung, wer er war. Wenn sie jetzt ins Haus zum Telefon rannte, war er verschwunden. Und sie wären kein bisschen schlauer.
Aber das war nicht alles. Er war direkt vor ihr, nur ein paar Meter entfernt. Sie wollte das Schwein sehen. Einen Blick in das Gesicht des Mannes werfen, der sie zusammengeschlagen und ihr Büro verwüstet hatte.
Sie drehte sich zu Sheridan um, die darauf wartete, dass sie die Polizei rief. »Zieh die Tür zu, und renn nach links«, flüsterte sie, hüpfte die zwei Stufen hinunter und begann zu rennen.
Der Kerl hatte bereits die Kurve der Einfahrt erreicht und humpelte ungeschickt. Er musste sich beim Fallen verletzt haben. Hinter sich hörte sie Sheridan die Treppe herunterspringen und dann einen weiten Bogen laufen.
Liv lief direkt auf den Mann zu und hielt den Baseballschläger in ihrer unverletzten Hand, der Asphalt kratzte unter ihren Socken. Er blickte über seine Schulter zurück, sah sie hinter sich, eilte nach links zum Zaun, der den Garten der Nachbarn abtrennte.
Er sprang von zu weit darauf los und krallte sich am oberen Ende fest, doch sein Körper knallte mit voller Wucht gegen die Eisenstäbe, sodass der Krach im ruhigen Abend widerhallte. Er klammerte sich fest, seine Füße scharrten verzweifelt über die glatte Fläche, er versuchte sich hochzuziehen und über den Zaun zu springen.
»He, du Arschloch!« Liv schlug mit dem Baseballschläger gegen die Eisenstäbe.
Sie hoffte, das würde ihn aufhalten und er würde sich ergeben, doch es schien ihn nur noch weiter anzuspornen. Er drückte seinen Fuß flach gegen den Zaun und stemmte sich hoch.
Sie nahm den Schläger in die andere Hand und packte ihn am T-Shirt. Er trug ein langes, rotes Oberteil, eine Art Trikot mit einer Nummer hintendrauf. Liv zog daran. Doch auch das beförderte ihn nicht herunter, sondern hielt ihn nur, wo er war, halb oben und halb unten.
»Komm verdammt noch mal von dem Zaun runter!«, schrie Sheridan. Sie hielt den Schirm an der Spitze und schwang das gebogene Ende, als wolle sie es ihm um die Gurgel legen. Der Mannschaftskapitän in Liv hätte am liebsten »gut gemacht« geschrien.
Eine ganze Weile bewegte sich niemand. Das Schwein hielt sich einfach weiter am Zaun fest, mit dem Hintern zur Einfahrt, eine bewaffnete wütende Frau an jeder Seite und Benny vor sich, der bellte, als würde er ihm ein Bein abbeißen, wenn er nur die Möglichkeit dazu bekäme. Dann gab er auf. Er ließ los, sprang auf den Boden und drehte sich um.
Liv hatte ein verschlagenes Gesicht erwartet, mit einer Verletzung auf der Wange und voller Hass in den Augen. Doch was sie im Licht ihres Nachbarn sah, war nichts dergleichen. Das war ein Kind. Ein großer, schlaksiger, verschwitzter Teenager. Ein langer, feuchter Pony hing über dem Schlaumeiergesicht, Flaum wuchs auf seinem Kinn. Er war höchstens fünfzehn.
»Was hast du in meinem Garten verloren?«, fauchte Liv.
»Lassen Sie mich los, sonst verklage ich Sie wegen Körperverletzung.« Er sagte das mit der selbstgerechten Arroganz eines Teenagers, der sich ein wenig mit dem Gesetz auskannte.
»Na toll, dann zeige ich dich wegen Hausfriedensbruch an. Und das ist nur der Anfang, du kleiner Scheißer.« Ihr Herz hämmerte, sie atmete heftig, und das nicht nur, weil sie gerannt war. War er das? Hatte dieses Kind sie zusammengeschlagen? Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nahm den Schläger in ihre unverletzte Hand. »Setz dich. Mit dem Rücken gegen den Zaun.«
Er sah sie kampflustig und spöttisch grinsend an, und wäre er nicht gerade über ihren Zaun gesprungen, hätte es sie verunsichert.
Sie ließ sein T-Shirt los und kam etwas näher an ihn heran, doch Sheridan schrie augenblicklich: »Setz dich!« Er sah sie an, dann Liv und ließ sich langsam zu Boden gleiten.
Liv sah, dass der Junge seinen Knöchel schonte und zusammenzuckte, um sein Gleichgewicht zu halten, als er sich langsam hinsetzte. Er war groß, doch seine Arme waren dünn, noch ohne Muskelmasse. Er trug klobige Turnschuhe und lange, ausgeleierte Shorts, passend zum Oberteil. Es sah wie eine Basketballuniform aus, die um seine Schultern schlabberte, sodass man seinen schmalen, knochigen Oberkörper erahnen konnte.
Das Schwein aus dem Parkhaus war hingegen groß und stark gewesen. Er musste ziemlich viel Gewicht in seine Schläge gelegt haben. Und auch Liv hatte ihn hart getroffen und sich dabei einen Knöchel gebrochen. Das Gesicht
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