Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
dieses Jugendlichen wies keine Anzeichen dafür auf. Vielleicht waren es zwei gewesen?
»Was hattest du in meinem Garten zu suchen?«
Er hob bockig das Kinn. »Lady, verpiss dich.«
»Oh, wie nett«, sagte Sheridan. »Erst läufst du durch fremder Leute Grundstück, und dann sagst du auch noch, sie sollen sich verpissen. Ich rufe die Cops.« Sie fuhr mit der Hand in die hintere Jeanstasche.
Liv hatte keine Ahnung, ob sie dort tatsächlich ein Telefon hatte – ihr schien es fast unmöglich, dass da noch eines reinpasste –, doch der Junge glaubte ihr. Er hielt die Hände hoch. »Okay, okay, tut mir leid. Bitte rufen Sie nicht die Cops. Ich wusste nicht, dass jemand zu Hause war.«
»Was hättest du denn gemacht, wenn ich nicht zu Hause gewesen wäre?« Liv beugte sich herab und sprach ihm direkt ins Gesicht. »Wärest du eingebrochen und hättest meine Wohnung auf den Kopf gestellt? So wie du es auch mit meinem Büro gemacht hast?«
Er starrte sie ängstlich an. »Wovon zum Teufel reden Sie da? Ich wollte nicht einbrechen. Ich habe einen Blumentopf kaputt gemacht. Das ist alles, aber das war ein Versehen, okay? Irgendwer hat die verdammten Mülltonnen verschoben, also bin ich an der falschen Stelle gelandet. Ich wusste nicht, dass er da stand. Ich bin normalerweise weiter unten im Garten. Außerdem habe ich mir den verdammten Knöchel verstaucht, okay?« Er sagte das mit dem Knöchel so, als wäre das eine Rechtfertigung seiner Tat.
Liv richtete sich auf, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte nachzudenken. »Was meinst du mit normalerweise?«
»Dass ich meistens eine Abkürzung vom Haus meines Freundes in der Boronia Street nehme.« Er zeigte in die Richtung der Straße, die hinter Livs Reihenhaus lag. »Dort werde ich nach dem Basketballtraining abgesetzt, aber der Weg nach Hause dauert ewig, also nehme ich eben eine Abkürzung, Sie wissen schon. Ich wusste ja nicht, dass Sie da sein würden. Bisher war hier noch nie jemand.«
»Ja klar, richtig«, sagte Liv sarkastisch, doch eine gewisse Unsicherheit machte sich in ihrer Stimme breit. Es war Dienstagabend. Normalerweise erledigte sie an dem Tag nach der Arbeit ihre Einkäufe. Wenn Cameron bei ihr war, konnte es auch mal vorkommen, dass sie irgendwo eine Kleinigkeit aßen. Wenn er nicht da war, arbeitete sie bis spätabends, bummelte dann herum und holte sich irgendwas, das nur aufzuwärmen war. »Wo wohnst du?«
»In Haus Nummer 29.« Er zeigte zur Straße gegenüber. »Im Haus mit den großen grauen Säulen.«
Liv kannte es. Es stand auf der anderen Straßenseite, einen Block weiter unten, eines der wenigen Anwesen, die nicht wie die anderen Reihenhäuser dicht aneinandergebaut waren. Würde er lügen, wo sie doch nur über die Straße gehen und an die Tür klopfen musste? Waren Fünfzehnjährige heutzutage so schamlos?
»Wie heißt du?«, drängte Sheridan weiter.
»Ryan Blaston. Bitte rufen Sie nicht die Cops. Mein Dad bringt mich um.«
Liv tauschte einen Blick mit Sheridan. Der Junge sah jetzt gar nicht mehr so dreist aus. Er sah aus, als würde er gleich losheulen. Vielleicht war es mütterlicher Instinkt, jedenfalls hielt sie ihn nicht für einen Lügner. Dieser Teenager hatte ihr nicht ins Ohr geflüstert, war nicht rasend vor Wut in ihr Büro eingedrungen, hatte keine Drohbriefe geschrieben. Sie ließ den Baseballschläger sinken und hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil sie ihren Ärger an ihm ausgelassen hatte. Hätte das jemand mit Cameron gemacht, nur weil er durch einen Garten gerannt war, wäre sie außer sich vor Wut gewesen.
»In Ordnung, steh auf.« Sie entfernte sich von ihm und wartete, bis er wieder auf den Beinen war. »Ist mit deinem Knöchel alles in Ordnung?«
Er probierte es aus und zuckte zusammen.
»Kannst du nach Hause laufen?«, fragte sie.
Er beäugte den Baseballschläger und nickte.
Sie verlieh ihrer Stimme den Ton elterlicher Rechthaberei. »Gut, Ryan, ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt. Lauf nicht ohne Erlaubnis durch fremde Gärten. Und sag einer Frau nie, dass sie sich verpissen soll. Das gehört sich nicht. Jetzt geh nach Hause, sollte ich dich noch mal bei mir erwischen, komme ich zu Nummer 29 und rede mit deinem Vater, verstanden?«
»Ja.« Er nickte, seine selbstgerechte Arroganz war Verlegenheit und Scham gewichen.
»Na, dann verschwinde jetzt.«
Als er die Einfahrt entlanghumpelte, kam Sheridan näher, sie hielt noch immer den Schirm wie einen Spazierstock in der Hand.
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