Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
ihre Haare im Nacken aufstellten. Wurde sie beobachtet? Sie suchte die Gesichter nach Verletzungen ab, wich zurück, wenn Fans allzu ausgelassen waren, und behielt ihre Sonnenbrille auf, um ihr blaues Auge zu verstecken.
Endlich entdeckte sie am Ende des Spielfeldes Camerons blonden Lockenkopf. Die Spieler waren seit dem letzten Jahr gewachsen, einige mehr als andere, und die meisten waren größer als Cameron. Er stand im Stürmerbereich, seine dünnen Beinchen pumpten wie Kolben, als er zu rennen begann, und bremsten nur wenig, wenn er langsamer wurde. Gute Fußarbeit!, hätte sie ihm am liebsten zugerufen, stattdessen lächelte sie wie zu sich selbst, behielt das Spiel im Auge und vermied es, nach Thomas Ausschau zu halten, um den Moment nicht zu verderben.
In der Pause stand sie bei den gegnerischen Fans und sah über das Spielfeld, während Cam sich mit seinen Teamkollegen Orangenschnitze teilte. Die zweite Halbzeit war ein einziges Gewusel von Kindern, die sich in der Spielfeldmitte tummelten und wilde Schüsse auf das Tor versuchten. Liv sah Cameron zu, wie er rannte, die Gegner verfolgte und sich das Herz aus dem Leib kickte. Ihr Vater sagte immer, dass er wie sie war. Sie war groß und athletisch gewesen, sogar in seinem Alter, aber sie erkannte die unbändige Energie und die furchtlose Entschlossenheit wieder. Wann waren ihr die abhandengekommen? Hatte sie die abgelegt, oder hatten die letzten Jahre mit Thomas sie aufgebraucht?
Sie blieb auch nach dem Abpfiff da, unfähig, sich loszureißen, als er mit einem Freund abklatschte und zu den Tribünen lief. Dann sah sie Thomas – er kam von der zweiten Sitzreihe herunter, reichte Cam eine Trinkflasche, drehte sich um und half noch jemandem herunter. Michelle.
Liv biss die Zähne zusammen. Sie musste sich hier am Spielfeldrand verstecken, während diese Michelle nach dem Spiel Cam abklatschte. Liv kniff die Augen zusammen und beobachtete sie über das Spielfeld. Sie hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen und vergessen, wie verdammt zierlich sie war – grazil und weiblich mit sattem, kastanienbraunem Haar und süßen Rehaugen. Manche Männer hatten Affären mit Frauen, die wie ihre Ehefrauen aussahen, aber jünger waren. Thomas hatte sie hingegen für eine Frau verlassen, die genau das Gegenteil von ihr war, deutlicher hätte er ihr nicht zeigen können, was er von ihr hielt.
Als Michelle auf das Spielfeld kam, fuhr ein Windstoß durch ihr Haar, wirbelte es hoch und drückte die lockere Bluse an ihren Körper, sodass die unmissverständliche Rundung eines Babybauches nicht zu übersehen war.
Das Blut wich so schnell aus Livs Kopf, dass sie fürchtete, ohnmächtig zu werden. Eine Hand griff nach ihrem Herzen, und ein Gefühl des Versagens brannte wie Feuer in ihrer Brust. Thomas bekam ein Baby. Der Mann, der nur ein Kind mit ihr wollte. Der Mann, den sie um eine künstliche Befruchtung hatte anbetteln müssen. Der Mann, der ihr noch vor einem Jahr gesagt hatte, wie froh er sei, dass es nicht geklappt hatte, weil zwei Kinder nach einer Trennung schwerer zu handhaben seien.
Liv taumelte davon, rempelte gegen eine Frau und war nicht imstande, sich bei ihr zu entschuldigen. Als sie durch die Menschenmenge mit gesenktem Kopf zurückging, um den Schock und ihre Tränen zu verbergen, dachte sie, dass es nicht einfach nur ein Baby war. Nun hätte Thomas zwei Kinder. Eine Partnerin und eine Familie . Cameron würde in das stille, einfach eingerichtete Reihenhäuschen zu Besuch kommen und dann zu seinem Vater, dem Baby, der Stiefmutter und allem, was dazugehörte, zurückgehen.
»Livia?«
Ein Mann stand vor ihr.
22
»Spielt Ihr Sohn hier?«
Daniel Beck stand vor ihr, groß, mit Sonnenbrille, er trug ein kleines Mädchen auf seinen Schultern. Neben ihm stand eine Frau. Liv genügte ein Blick, um zu sehen, dass er sie, was Kinder betraf, angelogen hatte. Sie hätte ihm am liebsten eine reingehauen. Vor fünf Tagen, als sie sich von ihm an jenem Abend im Krankenhaus verabschiedet hatte, hatte sie ihm noch gewünscht, er könnte nach Hause zu einer Familie gehen. Doch gestern Abend hatte er gesagt, sie könne ihn jederzeit anrufen, so als wollte er das auch. Sie hatte ihn für einen Single gehalten, und jetzt machte er auf glückliche Familie und sah sich unterdessen nach etwas Besserem um. Genau wie Thomas.
Irgendwas an ihrem Gesichtsausdruck musste ihn beunruhigt haben, denn plötzlich sah er sich um. »Alles in Ordnung?«
Sie presste die Lippen zusammen
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