Ich kenne dein Geheimnis
Morgen bis spätabends bei Telestella arbeitete, ließ sie den Haushalt schleifen. Gut,
dass Paolo noch in New York war, sie hätte gar keine Zeit für ihn gehabt. Sie machte sich eine Portion Tiefkühlgemüse heiß,
rieb etwas Grana Padano darüber und beträufelte das Ganze mit Olivenöl. Dann nahm sie den Teller, einen Block und einen Stift,
setzte sich ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein, um sich von ihren quälenden Gedanken abzulenken: Chiara tat alles,
um nicht einzuschlafen, so groß war die Angst, wieder von ihrem Fenstersturztraum gepeinigt zu werden. Schon seit zwei Nächten
ging das so. Sobald sie einnickte, begannen sich die Zeitebenen in ihrem Kopf zu verschieben. Dann musste sie sich sofort
aufraffen und ein paar Schritte gehen. Wenn sie diesen Moment verpasste, war die Vision wieder da und sie stürzte aus dem
Fenster. Nach dem Aufwachen waren die Erinnerungen noch sehr präsent. Bevor die Bilder wieder verschwanden, notierte Chiara
alles, was sie gesehen hatte. Deshalb hatte sie immer Notizblock und Stift bei sich.
Während sie wartete, bis das Gemüse etwas abkühlte, zappte sie durch die Kanäle. Auf RAI 2 lief eine Folge von »Medium«, in
der es um eine Anwaltspraktikantin mit übernatürlichen Fähigkeiten ging. Die Hauptrolle spielte Patricia Arquette.
Chiara fand die Serie banal und langweilig, doch gerade als sie den Kanal wechseln wollte, erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. |314| Das Licht rund um Patricia Arquette wurde plötzlich blau und begann zu flackern, ein Zeichen, dass sie die Schwelle zum Reich
der Visionen überschritten hatte. In diesem Stadium konnte sie mit Toten kommunizieren und diese um Hilfe bei der Aufklärung
von Verbrechen bitten. In diesem blauen Tunnel wartete eine dunkelhaarige Frau auf Patricia. Die Zuschauer sahen sie allerdings
nur von hinten.
»Was hast du mit dem Verbrechen im Zug zu tun?«, fragte Patricia Arquette die mysteriöse Dunkelhaarige. Chiara begann zu zittern,
und der Löffel rutschte ihr aus der Hand. Sie wollte ihn wieder aufheben, aber die Muskeln versagten ihr den Dienst. Da war
sie wieder, die hypnotische Lähmung, eine Art Trance, die ihren Körper weitgehend blockierte. Nur ihre Augen konnte sie bewegen,
Zunge und Hände reagierten nicht. Ihr Gehirn jedoch war hellwach.
Aus dem Fernseher drang eine Stimme, doch es war jetzt nicht mehr die Stimme von Patricia Arquette, sondern ihre eigene: »Sag
mir, wer die Frau aus dem Zug war!«
Als die Frau sich umdrehte, riss Chiara erstaunt die Augen auf. Sie kannte sie. Die Frau wollte gerade etwas sagen, als plötzlich
zwei Männer aus dem blauen Licht auftauchten und sie wegzerrten. Einer der beiden drohte, ihr Gesicht zu zerschneiden. Dann
wurde der Bildschirm schwarz. Patricia Arquette war verschwunden. Chiara wusste: Jetzt war für sie der Zeitpunkt gekommen,
in das Reich der Visionen einzutauchen. Als die beiden Männer, die im Film eben erst die dunkelhaarige Frau fortgebracht hatten,
an das Sofa traten, sie hochhoben und zum Fenster zerrten, wusste sie, was geschehen würde. Trotz aller Bemühungen gelang
es ihr nicht, die Lähmung abzuschütteln. Plötzlich stand das Fenster offen und eiskalter Wind strömte ins Zimmer, wie ein
Hauch des Todes. Einer der Männer hatte ein Klappmesser gezogen und es ihr gegen die Wange gedrückt.
|315|
»Neiiiiiin!« , schrie Chiara und bemerkte, dass sie nicht mehr auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer saß. Als sie sich umblickte, erkannte sie,
wo sie war. Einen Augenblick später zerrten sie die beiden Männer über das Fensterbrett und stießen sie in die Tiefe. Dieses
Mal erschien ihr der Sturz unendlich lang. Da erkannte Chiara auf dem Bürgersteig einen Mann, der die Arme nach ihr ausstreckte.
Es war der Edelmann aus dem 18. Jahrhundert , der sie retten wollte. Kurz bevor sie auf dem Boden aufschlug, erwachte sie endlich. Chiara nahm Stift und Block und notierte
die Adresse des Hauses und den Namen der dunkelhaarigen Frau.
Durch ihre Notizen gelang es Chiara, eine gewisse Struktur und Logik in ihre Visionen zu bringen. Vor allem aber waren sie
eine große Hilfe dabei, wieder in die Realität zurückzukehren und sich nicht von ihrer Gabe beherrschen zu lassen. »Lass es
nicht zu, Chiara, dass deine übersinnlichen Fähigkeiten dich beherrschen, du musst sie nutzen. Was einen Menschen zum Sklaven
macht, ist eine Plage und keine Hilfe«, hatte ihre Freundin Danka einmal zu ihr
Weitere Kostenlose Bücher