Ich kenne dein Geheimnis
hielten den
Kopf gesenkt, in ihren Augen standen Scham und Schuldbewusstsein. Sie hatten das eherne Gesetz gebrochen: absoluter Gehorsam
und schonungslose Ehrlichkeit gegenüber der Baronessa.
»Was ist es diesmal?« Vivy versuchte ihre Verärgerung zu überspielen.
Nach einem kurzen Blickwechsel mit Velati ergriff Tonioli das Wort: »Vor zwei Tagen haben wir in Magazin 1 neben einem Barrique-Fass
einen weiteren anonymen Brief gefunden. Dieses Mal drohen uns die Erpresser damit, die gesamte Weinernte zu vernichten, er
reichte der Baronessa den Brief.
»Trink diesen Wein, wenn du mir nicht glaubst.« Vivy war konsterniert. »Das verstehe ich nicht.«
|348| »Wir wollten Sie nicht grundlos beunruhigen. Deshalb haben wir beschlossen, Ihnen den Brief zu verheimlichen, bis wir sicher
sein konnten, dass es sich nicht nur um eine leere Drohung handelt. Ich habe den Inhalt des Eichenfasses von meinem Cousin
untersuchen lassen, der in einem chemischen Labor ganz in der Nähe arbeitet. Und das ist das Resultat.« Er reichte der Baronessa
den Bericht. »Der Wein wurde mit Saccharose und Säure verpanscht.«
Vivy nickte bedächtig, sie hatte die Warnung verstanden. Bruno Velati dagegen noch nicht. »Säure?«
»Ja«, antwortete Vivy, »durch verdünnte Salzsäure zum Beispiel wird der Zweifachzucker Saccharose in die Einfachzucker Fruktose
und Glukose aufgespalten. Dadurch wird das Weingesetz, das den Zusatz von Saccharose verbietet, umgangen und suggeriert, dass
es sich um natürlichen Fruchtzucker handelt …«
»Schöne Bescherung«, seufzte Velati.
»Allerdings«, schaltete sich Tonioli ein, »gehören Salzsäure oder Ascorbinsäure, in welcher Form auch immer, einfach nicht
in den Wein, sie können verheerende Wirkung auf den Organismus haben …«
Vivy dachte einen Augenblick nach. Das hatte gerade noch gefehlt. Wenn die Erpresser ihre Drohung wahr machten, wäre ihr Weingut
am Ende: man würde sie der Weinpanscherei und krimineller Machenschaften anklagen. Sie erinnerte sich gut an einen ähnlichen
Fall in der Provinz Taranto. Zwei Firmen waren damals angeklagt worden, eine Mischung aus Wasser, Zucker und teilweise lebensgefährlichen
Chemikalien hergestellt und an mehrere Weingüter verkauft zu haben, die dieses Gemisch ihrem Traubenmost beimischten. Das
Ergebnis war ein gepanschter Billigwein. Von Apulien aus hatte sich der Skandal auf ganz Italien ausgeweitet, was den Staatsanwalt |349| von Taranto zu der Annahme veranlasst hatte, dass die Cosa Nostra und ihr apulischer Ableger, die Sacra Corona Unita in den
Fall verwickelt sein mussten. Nicht nur, dass die Gefährdung von Menschen in Kauf genommen wurde, die skandalösen Machenschaften
hatten auch viele rechtschaffene Winzer in Misskredit gebracht, und das Image der Weinbranche war nachhaltig beschädigt.
»Wir müssen die Kontrollen verstärken, egal, was das kostet. Wenn es nötig ist, ziehe Spezialisten hinzu, Marco. Das Stiftungsfest
steht kurz bevor, wir können uns nicht leisten, dass etwas schiefgeht. Wenn sie Krieg wollen, sollen sie ihn haben«, Vivys
Stimme zitterte leicht.
Tonioli versuchte sie zu beruhigen: »Ich habe schon eine Sicherheitsfirma beauftragt. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie stellen
uns auch Bodyguards für die Party.«
»Gut«, Vivy nickte, noch immer blass. Sie wollte sich erheben.
»Es gibt da noch etwas, Baronessa …« Tonioli zog ein zweites Blatt Papier aus der Tasche.
Vivy blieb sitzen. »Noch ein Brief?«
»Wir haben ihn in einer Weinkiste gefunden, die uns irgendwie verdächtig vorkam. Dieses Mal fordern sie Geld, viel Geld. Im
Gegenzug würden die Sabotageaktionen sofort aufhören.« Tonioli reichte ihr den Brief.
»Die sind ja verrückt!« Vivys Gesicht verzog sich. »Wenn wir diese Summe zahlen, sind wir finanziell am Ende. Dann lasse ich
es lieber drauf ankommen. Wie können diese Kerle eigentlich unbemerkt bei uns ein und aus gehen?«
Marco schüttelte den Kopf.
»Irgendeine Idee?«
»Noch nicht, aber wir arbeiten daran. Ich habe sogar eine Belohnung für sachdienliche Hinweise ausgesetzt. In der |350| Zwischenzeit sind die ersten Fragebögen eingegangen, und ich habe schon eine Liste derjenigen Mitarbeiter gemacht, in deren
Umfeld Drogenprobleme bekannt sind.«
Vivy sah ihn mit Tränen in den Augen an. »Hoffen wir das Beste, Marco. Die Zeit arbeitet gegen uns.«
Vivy Sannazzaro hatte die letzte Anprobe. Für die Party hatte sie ein Top, eine lange Jacke
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