Ich kenne dein Geheimnis
erstaunlich gut geschlafen. Ob
und was sie geträumt hatte, wusste sie nicht mehr. Sie erinnerte sich lediglich daran, dass sie in der Gewissheit eingeschlafen
war, dass der Portier an der Rezeption keine Unbefugten einlassen würde. Bevor sie die Augen geschlossen hatte, war ihr ein
Spiel aus Kindertagen eingefallen, das sie in |399| Pieve Santo Stefano mit ihrer Freundin Luisa gespielt hatte. Es ging um den Hausgeist. Da man durch das Fenster der einen
ins Fenster der anderen sehen konnte, gaben sie sich vor dem Schlafengehen als Gutenachtgruß immer Lichtzeichen. Einmal Aufblenden
bedeutete »alles in Ordnung«, zweimal schnelles Aufblenden »der Geist ist in der Nähe«. Von Luisa kam stets das Zeichen »alles
in Ordnung«. Und dennoch: Eines Tages kam der Geist und nahm ihr die beste Freundin. Sie kehrte nie wieder zurück. Auch nach
so vielen Jahren gab es immer wieder Tage, an denen Chiara das Gefühl hatte, sie könne sich nur dann jemals wieder wirklich
sicher fühlten, wenn Luisas Taschenlampe einmal aufblitzen würde.
Draußen schien die Sonne. Chiara duschte rasch und rief dann Silvia an.
Die Kommissarin schlug vor, gleich den ersten Flug nach Mailand zu nehmen. Ispettore Bonadeo würde sie vom Flughafen abholen,
wohnen könne sie bei ihr. Chiara war einverstanden. Sie rief Gilla an und bat sie, ihr einige Oberteile, eine Jeans und ein
Paar Schuhe zum Wechseln einzupacken. Wäsche, Waschbeutel und Trolley würde sie am Flughafen kaufen.
Sie landete pünktlich. Da sie nur Handgepäck hatte, konnte Chiara sofort auschecken. Dante Bonadeo war nach Linate gekommen
und begrüßte sie mit einem freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Dann griff er nach ihrem Trolley. Chiara errötete, warum,
konnte sie auch nicht sagen. Einen Moment lang war sie sich wie ein junges Mädchen vorgekommen, das sich zum ersten Mal verliebte,
und hatte deshalb sofort ein schlechtes Gewissen bekommen. Doch dann war ihr klargeworden, dass sie den Ispettore nur deshalb
so anziehend fand, weil er sie an Paolo erinnerte. Beide waren groß, athletisch |400| und echte Gentlemen. Zum Glück kam Paolo bald zurück. Dann würde ihr so etwas nicht mehr passieren.
Auf der Fahrt zu Silvia erzählte Chiara von der Rosso-Bianco-Oro-Party und von Smeralda Mangano.
»Smeralda Mangano? Ich wusste gar nicht, dass die Schauspielerin und die Baronin sich kennen«, sagte der Ispettore.
»Ich auch nicht, ehrlich gesagt. Und das ist wirklich ein Wunder, bei meinem Beruf. Vivy Sannazzaro und sie schienen sich
sehr nahezustehen, denn am Tag nach der Party war Smeralda Mangano erneut in der Villa. Ich hatte sogar den Eindruck, dass
beide Frauen geweint hatten, bevor ich kam.«
»Auch das noch. Aber ist die Welt nicht gerade deshalb so schön, weil sie so klein und trotzdem voller Überraschungen ist?
Wir sind da.« Er parkte vor einem modernen fünfstöckigen Apartmenthaus, stieg aus und öffnete Chiara die Beifahrertür. Dann
half er ihr beim Aussteigen, nahm den Trolley aus dem Kofferraum und drückte ihr Silvias Schlüssel in die Hand. »Die Kommissarin
erwartet dich im Büro. Aber erst sollst du es dir in aller Ruhe gemütlich machen, meinte sie.«
Silvia hatte das Gästezimmer hergerichtet und frische Handtücher aufs Bett gelegt. Auf dem Tisch stand ein Blumenstrauß, daneben
lagen eine Willkommenskarte und etwas Schokolade. Chiara war gerührt, las die Karte, knabberte an der Schokolade, packte ihr
weniges Gepäck aus und verstaute es im Schrank. Dann sah sie sich in der Wohnung um. Hier fühlte sie sich sicher. Die Wohnung
war genau wie die Kommissarin selbst: nüchtern, ohne Schnickschnack, alles stand an seinem Platz. Nur der Schreibtisch im
Arbeitszimmer bildete eine Ausnahme: Er war mit Akten und Papieren übersät. Chiara lächelte, noch eine Gemeinsamkeit zwischen
ihnen, so sah es auf ihrem Schreibtisch auch immer aus. Bevor sie ins Kommissariat fuhr, gönnte sie sich eine heiße Dusche.
Während sie |401| später in der Küche einen Kaffee trank, dachte sie wieder an Smeralda Mangano und die Baronessa. Sie war sich sicher, dass
die beiden an diesem Morgen ihr gegenüber alles getan hatten, um ihre wahren Gefühle zu verbergen. Um diesem Geheimnis auf
den Grund zu gehen, versuchte Chiara Kontakt mit ihrem Unterbewusstsein aufzunehmen, aber es gelang ihr nicht. Ein dunkler
Schleier hatte ihr inneres Auge blind gemacht.
Sie musste unbedingt mit Silvia darüber sprechen. Immerhin
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