Ich kenne dein Geheimnis
Überdosis gehabt haben?«
»Kein Ahnung. Auch die Eltern wissen es nicht.«
»Diese Geschichte stinkt an allen Ecken und Enden.«
»Sie kennen meine Meinung.«
|409| »Und die wäre?«
»Ich würde zur Polizei gehen, auch weil …«
Vivy unterbrach: »Das steht nicht zur Debatte.« Dann fügte sie in versöhnlicherem Ton hinzu: »Vielleicht bist du dir nicht
bewusst, mit wem wir es hier zu tun haben, Marco. Das war die Mafia oder die Camorra – was kann die Polizei da schon ausrichten?«
Tonioli erstarrte. Gerade weil die Mafia im Spiel war, wollte er die Polizei einschalten. Aber gegen den Willen der Baronessa
konnte er nichts tun. »Wir müssen noch fünf weitere Filme auswerten«, dabei wischte er sich mit einem Taschentuch den Schweiß
aus dem Gesicht. »Und wenn wir Glück haben, finden wir etwas.«
Vivy sah ihm fest in die Augen. »Lass uns noch einige Tage warten. Wenn wir einen endgültigen Überblick über alle Verdächtigen,
Beweise und Videoaufnahmen haben, dann übergeben wir alles der Polizei.«
Marco nickte, aber zufrieden war er mit dieser Lösung nicht. Vivy Sannazzaro war in Gefahr, und er fürchtete, diese von ihm
hochverehrte Frau nicht genügend schützen zu können.
Zurück in der Villa, ließ sich Vivy von Alfredo ein Beruhigungsbad mit Rosmarin und Lindenblüten vorbereiten. Um elf hatte
sie eine Verabredung mit Maria Majorana. Für den Termin mit der Altphilologin wollte sie frisch und ausgeruht sein. Am Vorabend
hatte Cesco sie informiert, dass Maria das Rätsel gelöst hatte. »Großartig, oder? Einen Teil der Hieroglyphen hatte sie bereits
vor der Stiftungsfeier entschlüsselt, aber ich wollte damit warten, bis du den Kopf frei hast.« Vivy brannte vor Neugier.
Im warmen Wasser lösten sich die Verkrampfungen der |410| letzten Tage. Entspannt dachte sie an Smeralda und ihre Enkelkinder. Zwillinge, nicht die ersten in der Familie Sannazzaro.
Doch sie wollte jetzt nicht an die Vergangenheit denken, es gab Wichtigeres. Um sich abzulenken, versuchte sie sich an Smeralda
Manganos bürgerlichen Namen zu erinnern. Der Name lag ihr auf der Zunge, Smeralda hatte ihn erwähnt, doch er fiel ihr einfach
nicht ein. Die Namen der Entführer dagegen hatte sie nicht vergessen. Das Notizbuch, in dem sie die Namen notiert hatte, befand
sich an einem sicheren Ort: Sie hatte es gemeinsam mit den Memoiren ihres Urahns im Geheimfach des Schrankes verborgen.
Als der Wasserdampf die Spiegel beschlug, stieg Vivy aus der Wanne. Ihr Körper war, dank ausgewogener Ernährung und regelmäßiger
sportlicher Betätigung, noch immer schlank und beweglich, aber den Blick in den Spiegel versuchte sie zu vermeiden. Die Prüderie
des Alters. Oder hatte sie Zweifel an ihrem Spiegelbild? War das überhaupt ihr Körper? Diese schlaffe Haut, die Falten, die
lilablauen Krampfadern auf den Beinen? Sie war immer die Schönheit der Familie gewesen und hatte gemeint, die Zeit würde spurlos
an ihr vorübergehen. Manchmal hatte sie sogar erwogen, dem mit Hilfe der plastischen Chirurgie etwas nachzuhelfen, wie sie
es als junge Frau getan hatte. »Unsinn«, dachte sie und schlüpfte in den Bademantel. Plötzlich sah sie zwei Mädchen vor sich,
die sich im Spiegel betrachteten. Eines von ihnen war wunderschön. Vivy seufzte tief. Ob sie sich jetzt ähnlicher wären? Bevor
sie ganz im Strudel der Vergangenheit versank, fiel ihr plötzlich Smeraldas Name wieder ein. »Maria Catena Eustochia Smeralda
Calogero«, sagte sie laut. Dann cremte sie sich ein und zog sich an, um Maria Majorana zu empfangen.
|411| Maria Majorana war nicht wirklich schön, aber gepflegt und elegant. Mit ihrer frischen Haut und ihrem dezenten Makeup, das
ihr markantes, offenes Gesicht vorteilhaft zur Geltung brachte, sah sie wesentlich jünger aus als fünfzig. Sie trug ein weinrotes
Kostüm und eine maskulin geschnittene weiße Bluse. Den angebotenen Espresso nahm sie dankend an, verbunden mit der Bitte,
rauchen zu dürfen. Nachdem sie einige Höflichkeiten ausgetauscht hatten, kamen sie zur Sache.
»Der Text wurde in Vulgärlatein verfasst, nicht gerade elegant, aber mit einer Prise Humor.«
»Humor?«
»Ja, wahrscheinlich um den Sinn zu verschleiern. Darf ich?« Maria Majorana setzte ihre Brille auf, holte die Übersetzung aus
der Tasche und begann zu lesen: »›Die zweisprachige Inschrift auf den beiden Sockeln ist weder phönizisch noch punisch, sondern
stammt aus dem Tagebuch eines
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