Ich kenne dein Geheimnis
Meistens waren sie mehr an einem flüchtigen Abenteuer als an einer
festen Beziehung interessiert. Er konnte einfach nicht verstehen, warum. »Die Welt ist auf den Kopf gestellt«, hatte ihm Vicecommissario
Pacì Barbera eines Tages an der Kaffeemaschine im Flur gesagt: »Früher sind wir Männer vor dem Altar geflohen, heute tun es
die Frauen. Vielleicht liegt es auch an unserem Beruf …«
Dante Bonadeo hatte mit den Schultern gezuckt und gelächelt: Er verstand es wirklich nicht.
»Einen tollen Job habe ich mir da ausgesucht«, maulte Bonadeo, während er hinter zwei anderen Polizisten die schmale Treppe
des venezianischen Hauses hochstieg. Sie waren nachts um halb zwei in Mailand aufgebrochen und jetzt war es gerade mal drei.
Doch das Adrenalin, das durch seinen Körper |103| strömte, wenn er an die bevorstehende Verhaftung dachte, vertrieb seine Müdigkeit. Bonadeo zog die Waffe und rief: «Polizei,
machen Sie auf!« Er hämmerte gegen die Tür. Die Kollegen standen rechts und links von ihm, auch sie mit den Waffen im Anschlag.
Sie warteten. Als sie aus der Wohnung Geräusche zu hören glaubten, brachen sie die Tür auf. Ispettore Bonadeo knipste das
Licht an. Der jüngere Kollege zuckte entsetzt zurück, während sich der andere an der Wand abstützte und sich erbrach. Der
Einzige, der die Fassung bewahrte, war Bonadeo.
Den Polizisten bot sich ein grauenvoller Anblick. Der Leichnam eines etwa vierzigjährigen Mannes war an einen Metallstuhl
gegenüber der Eingangstür gefesselt. In den leeren Augenhöhlen steckte jeweils eine Hutnadel. Eine verästelte Blutspur hatte
sich über das bleiche Gesicht ausgebreitet wie ein Spinnennetz. Aber das Schlimmste war der Stumpf der abgeschnittenen Zunge,
den man zwischen den blutigen Zähnen erkennen konnte. Im Zimmer stank es nach verbranntem Fleisch.
Bonadeo nahm ein Paar Latexhandschuhe aus der Tasche, streifte sie über und ging langsam auf den Leichnam zu. »Bevor er getötet
wurde, hat man ihn brutal gefoltert«, sagte er und hob vorsichtig den rechten Arm des Opfers in die Höhe, »sie haben ihm die
Finger verbrannt, seht mal hier, und auch die Füße.« Unter dem Stuhl erkannte man zwei schwarze Stummel. Bonadeo atmete tief
durch und blickte sich suchend um. Er brauchte eine Pause. Die Wohnung war nicht groß, aber äußerst luxuriös eingerichtet,
mit vergoldeten Barockspiegeln an den Wänden und einem wertvollen Rokokosofa genau hinter dem Toten. Beherrscht wurde der
Raum von einem antiken Eichentisch. Durch eine offene Tür blickte man in das Schlafzimmer.
|104| »Reißt euch zusammen. Erst rufen wir die Spurensicherung, und dann verschwinden wir. In der Zwischenzeit allerdings sehen
wir uns noch ein bisschen um.«
Bonadeo erreichte Mailand mit dem Gefühl, einen Volltreffer gelandet zu haben. Wenigstens bei der Arbeit lief es. Nachdem
er Vicecommissario Barbera Bericht erstattet hatte, wartete er darauf, mit Commissario Giorgini zu sprechen.
»Die Chefin erwartet dich«, Barbera stand auf und steckte das Handy in die Tasche. »Los geht’s.« Er klopfte dem Inspektor
auf die Schulter und ging vor ihm die Treppe hinauf.
Die Kommissarin stand vor ihrem Schreibtisch, den Bericht in der einen, die obligatorische Zigarette in der anderen Hand.
»Schieß los«. Silvia Giorgini zog gierig an ihrer Zigarette und blies Bonadeo den Rauch ins Gesicht, der allerdings viel zu
aufgeregt war, um zu protestieren. Er zwang sich zu einer ruhigen Tonlage und zu präzisen Aussagen, immerhin war er kein Anfänger
mehr. »Im Beisein von Vicecommissario Barbera haben wir eine zweite Tatortbesichtigung in Livraghis Wohnung durchgeführt.
Wir haben jedes Fenster und jede Fensterblende überprüft und sogar ein frisch gegrabenes Loch an der Außenseite des Hauses
unter die Lupe genommen. Wir haben Küche und Bad akribisch untersucht, jeden Flakon umgedreht …«
»Kommen Sie bitte zum Punkt«, die Kommissarin wurde ungeduldig.
»Natürlich. Auf der Treppe bin ich fast gestürzt, weil ich eine Stufe schlecht erwischt hatte. Als ich mich gefangen und zu
Barbera umgedreht hatte, bemerkte ich ein loses Brett. Ich hebe es an, und was finde ich? Unseren USB-Stick mit 20 Gigabyte!«
Bonadeo tauschte einen raschen Blick mit Barbera, dann sahen sie erwartungsvoll die Kommissarin an. Silvia Giorgini kannte
den Inhalt bereits.
|105| »Der Stick enthält fünfundzwanzig Filme und dreißig Fotos mit pädophilem Inhalt:
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