Ich kenne dein Geheimnis
Minderjährige beim Sex mit anderen Minderjährigen
und Erwachsenen.« Silvia Giorgini schüttelte den Kopf. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass sie solches Material auswertete,
aber an diesen Anblick würde sie sich nie gewöhnen. Andere Kollegen dagegen waren längst zu Zynikern geworden, auch außerhalb
des Jobs. Sie zog ein Foto aus der Mappe. »Das einzige Bild ohne pornografischen Inhalt war dieses.«
Barbera und Bonadeo sahen ein hübsches Mädchen mit braunen Locken und hellen Augen. Es trug einen grauen Schlafanzug und lächelte.
»Die Experten meinen, sie dürfte nicht älter als vier Jahre gewesen sein, als das Foto gemacht wurde«, erläuterte die Kommissarin.
Es herrschte betretenes Schweigen. Was wohl aus diesem Kind geworden war?
»Livraghi hat wahrscheinlich mit Kinderpornografie gehandelt, vielleicht hat er die Kinder angeworben.« Bei dem Gedanken,
dass diese Kinder aus ihren Familien gerissen und entführt worden waren und sich nun in der Gewalt von Perversen befanden,
drehte sich Silvia Giorgini der Magen um. Das war noch unfassbarer und unerträglicher als die bizarre Welt der Psychosekten,
gegen die sie fast ihr ganzes Leben kämpfte und die ihr vor elf Jahren ihren über alles geliebten Bruder genommen hatten.
»Wir warten auf den Bericht von Interpol, dann werden wir wissen, ob die Kinder als vermisst gemeldet sind. Im Jahr 2008 sind
allein auf der Insel Lampedusa von dreizehnhundertzwanzig minderjährigen Flüchtlingen vierhundert spurlos verschwunden. Inzwischen
haben wir die Fotos an alle italienischen Polizeidienststellen geschickt und warten auf Informationen über sämtliche in den
vergangenen zehn Jahren |106| entführte Kinder. Zum Glück können wir heute einen Steckbrief digital verändern und zum Beispiel Menschen auf Fotos künstlich
altern lassen. Die Technologie scheint das Einzige zu sein, worin die Welt Fortschritte gemacht hat.«
Bonadeo und Barbera nickten und blickten betroffen auf das Foto des kleinen Mädchens.
»Wir werden diese Schweine finden«, sagte Bonadeo.
Barbera betrachtete die auf dem Schreibtisch verstreuten Fotos des verstümmelten Leichnams. »Livraghis Mörder waren in der
Tat nicht zimperlich.«
»Die Zunge abgeschnitten und die Augen ausgestochen. Da wollte jemand ein Exempel statuieren …«
»Die Strafe für einen Verräter. Für jemanden, der etwas gesehen oder gesagt hat, was er nicht hätte sehen oder sagen dürfen.
Oder auch beides zusammen«, schaltete sich Silvia Giorgini ein.
»Meinen Sie, das gilt auch für die Frau im Eurostar? Im Grunde ist die Tat vergleichbar …«, mutmaßte Bonadeo.
»Es ist noch zu früh, um etwas darüber sagen zu können. Wir wissen zu wenig über Yelena Marcovich. Nach ihrer Einreise nach
Italien vor etwa zehn Jahren hat sie sich in Luft aufgelöst. Wahrscheinlich hat sie ständig die Identität gewechselt: Haarfarbe,
Namen, das ganze Programm.«
»Eine winzige Spur haben wir aber doch«, wandte Pacì Barbera ein: »Dieser Bäcker hat ausgesagt, dass Malena hin und wieder
mit seinem Lehrling aus Palermo gescherzt hat, und zwar in sizilianischem Dialekt. Vielleicht hat sie mal in Sizilien gelebt.
Jedenfalls habe ich Milazzo gebeten, den Jungen nach der Frau zu befragen.«
»Wir dürfen nichts unversucht lassen, Barbera, aber es muss schnell gehen.« Silvia Giorgini griff nach dem Foto des Mädchens
und steckte es in die Akte zurück. Dabei dachte sie darüber |107| nach, welche schrecklichen Szenarien mit dieser Ermittlung verbunden sein könnten. Sie war sich nicht sicher, ob sie dazu
bereit war. Sie wartete, bis ihre Kollegen das Büro verlassen hatten, dann steckte sie sich die letzte verbliebene Zigarette
an. »Rauchen tötet« stand auf der Schachtel. Silvia verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln.
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In den Salons des Quirinalspalasts drängten sich die Menschen. Die reich mit vergoldeten Stuckornamenten verzierten hohen
Decken schluckten die angeregten Gespräche der Gäste, die zur Verleihung des Premio Copernico gekommen waren. Mit diesem Preis
wurden besonders verdienstvolle Bürger ausgezeichnet: Unternehmer, Künstler, Wissenschaftler und Politiker, die herausragende
Leistungen erbracht hatten. Auf der Gästeliste fanden sich unter anderem Luca Cordero di Montezemolo, die Unternehmer Diego
Della Valle und Leonardo Del Vecchio sowie die Modedesignerin Laura Biagiotti. In einem eleganten ecrufarbenen Abendkleid,
dem
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