Ich kenne dein Geheimnis
uns Sorgen.
Nächste Woche stehen Besuche bei den Lehrern an. Manchmal beneide ich dich, Anna, Kinder sind doch immer auch eine Belastung.«
Anna seufzte. In wenigen Sekunden hatte ihre Freundin gleich drei heikle Themen angeschnitten: Giampiero, Essen und Kinder.
Sie konzentrierte sich auf Marilenas leuchtend rotes Kleid. Eine Farbe, die für den feierlichen Anlass etwas gewagt war, doch
der wohlproportionierte Körper, den es verhüllte, glich das bei weitem wieder aus. »Ein wunderschönes Kleid.«
»Donna Diabla«, sagte Marilena und machte eine kleine Drehung, um es noch besser zur Geltung zu bringen.
Anna erinnerte sich, wie empört sie gewesen war, dass die Donna-Diabla-Modelle in Amandas Boutique nur bis Größe 38 zu haben
waren.
»Natürlich würde es noch besser sitzen, wenn ich diese verdammten beiden Kilos wieder loswerden würde, die mich seit letztem
Jahr plagen.« Marilena klopfte auf ihre unsichtbaren Speckröllchen an den Hüften.
Das vierte Tabuthema. Das war zu viel. Anna sah sich suchend nach Giampiero um. Von allen Übeln war ihr Mann im Augenblick
noch das kleinste.
Sie fand ihn schließlich in Gesellschaft der Baronessa |112| d’Altino. Immerhin keine Jüngere, dachte sie, aber trotzdem fühlte sie sich einsam und verlassen.
»Giampiero weicht mir aus«, dachte sie. »Er hat mich nur mitgenommen, weil man zu einem solchen Anlass eben mit Ehefrau erscheint.
Sonst hätte er mich bestimmt zu Hause gelassen.« Sie biss sich auf die Lippen. Der Kampf in ihrem Inneren ging weiter.
»Champagner, Signora?« Ein gutaussehender Kellner stand vor ihr, ein Silbertablett in der Hand.
»Danke.« Anna griff nach einem Glas, leerte es in einem Zug und stellte es lächelnd auf das Tablett zurück. »Was soll’s!«,
dachte sie und ging ans Büfett. Sie hatte den Kampf verloren.
Für Baronessa Vivy Sannazzaro d’Altino war der Rückweg ins Chianti eine Qual. Nicht, weil das Fest zu anstrengend gewesen
wäre, es war vielmehr die Einsamkeit, die sie bedrückte und die sich immer dann schwer auf ihre Seele legte, wenn sie sich
nicht mit Arbeit ablenken konnte.
Sie saß im Lieblingssessel ihres verstorbenen Mannes im Salon ihrer Villa. Auf dem antiken Tisch aus der Epoche Karls VIII.
standen silberne Bilderrahmen. Sie nahm den größten in die Hand und sah lange auf das Foto. Es war eine Farbaufnahme, die
sie selbst gemacht hatte: eine glückliche Familie an einem Sommertag im Garten der Villa. Ihr Mann Rodolfo, schlank, elegant,
mit angegrautem Bärtchen, lächelte in die Kamera. Seine Hände ruhten liebevoll auf den Schultern seiner Söhne. Raul hatte
eine ähnliche Statur wie sein Vater, er wirkte reif für sein Alter, auf seinen Lippen lag ein melancholisches Lächeln. Lupo
dagegen sah unbeschwert aus, seine langen blonden Haare leuchteten in der Sonne.
»Meine armen Kinder«, murmelte sie und strich sanft über das Foto. Es war alles, was von ihrem verlorenen Glück geblieben |113| war. Schon lange war ihre Trauer bei Freunden und Geschäftspartnern kein Thema mehr, aber sie wusste genau, was sie dachten:
Sie hat viel Pech gehabt. Doch so einfach war es nicht. Vivy war sicher, dass ihr Schicksal vorherbestimmt war, wenngleich
ihr ihr gesunder Menschenverstand sagte, dass sie das lieber für sich behielt. Wie so oft, wenn sie sich unbeobachtet wusste,
stand sie auf und öffnete das Geheimfach eines wuchtigen Schranks aus dem 18. Jahrhundert, der die ganze Wand beherrschte.
Sie nahm eine vergilbte Mappe heraus und setzte sich wieder auf den Sessel. Bevor sie die Mappe aufschlug, zögerte sie kurz,
dann setzte sie eine mit Swarovski-Kristallen besetzte Brille auf. Jedes Mal, wenn sie die engbeschriebenen Blätter las, versetzte
es ihr einen Stich. Die erste Seite begann wie folgt:
Im Jahre des Herrn 1768 beginne ich, Baron Wolfgang von Altemburg, besser bekannt als Barone Rocca d’Altino , mit der Niederschrift meiner Memoiren, um die Wahrheit für die Nachwelt festzuhalten …
Republik Venedig, 1756
»Die Contessa schläft, Signore.« Pina versuchte sich ihm in den Weg zu stellen, aber Wolfgang von Altemburg lachte nur und
schob die Dienerin beiseite.
Der Baron war im Morgengrauen in der Villa Corrier angekommen. Er war inkognito gereist, die Fenster der Kutsche verhängt,
nur seine treuen Diener Franzin und Balà an seiner Seite. Sie durften das Gepäck nicht aus den Augen lassen. Die Taschen schienen
ungewöhnlich leicht zu sein, wenn
Weitere Kostenlose Bücher