Ich kenne dein Geheimnis
Smeralda wandte den Kopf ab und wiederholte immer wieder die gleichen Worte: »Gebt mir meine Kinder zurück. Ich will
meine Kinder zurück.« Dann sank das Fieber, und ihr wurde endgültig klar, dass sie ihre Kinder nie wiedersehen würde. Diese
Tatsache brach ihr das Herz. Nichts ist schlimmer, als innerlich zu sterben, während der Körper am Leben bleibt.
»Signorina, ich habe Ihnen den Corriere mitgebracht«, Raquel hatte das Zimmer betreten.
»Danke, leg ihn bitte aufs Bett.«
»Soll ich Fieber messen?«
»Jetzt nicht, vielleicht später.«
Raquel legte die Zeitung aufs Bett und schloss die Tür hinter sich. Smeralda nahm den Corriere della Sera und blätterte darin.
Im Gesellschaftsteil sprang ihr eine Schlagzeile ins Auge: »Vorbestrafter Mann in Venedig zu Tode gequält.« Sie überflog den
Artikel. Das Opfer hieß Antonio Livraghi. Weiter kam sie nicht, denn ihr Blick fiel auf das Bild rechts neben dem Artikel.
Es war ein Phantombild, und darüber stand zu lesen: »Das neue Gesicht der dreifachen Toten.« Auch hierzu gab es einen Artikel,
in dem davon die Rede war, dass Livraghi wahrscheinlich der Geliebte der Toten im Zug gewesen war. Es folgte die fettgedruckte
Telefonnummer der Polizei. Wer sachdienliche Hinweise |149| zu der Toten auf dem Phantombild geben konnte, wurde gebeten, sich zu melden. Smeraldas Herzschlag setzte einen Moment aus.
Der ausweichende Blick, die feinen Gesichtszüge, die dunklen Haare. Der Name, der ihr immer unbekannt geblieben war, ebenfalls
fett gedruckt: Yelena Marcovich.
Plötzlich wurde ihr schwindlig. Sie legte sich auf die Seite und versuchte sich zu entspannen, an nichts zu denken. Bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel, glaubte sie die kalte Stimme ihres Entführers zu hören:
Deinen Kindern wird es gutgehen, und du kannst ein neues Leben anfangen. Überleg doch mal: Nie wieder Maria Catena Calogero,
nie wieder Caty oder Scila, nie wieder ’a Minnona . Du wirst Smeralda Mangano sein, die Schauspielerin. Und von uns bekommst du das Startkapital.
»Ein neues Leben anfangen«, murmelte Smeralda und schlief ein.
Die Geschäfte laufen schlecht, wir brauchen neue Einnahmequellen.
Vito Santanna schob den Gedanken, der ihn schon seit Tagen plagte, beiseite, um einen Blick ins Giornale della Sicilia zu
werfen. Die Zeitungslektüre beim Frühstück war eine feste Gewohnheit, bei der er nicht gestört werden wollte. Er ging nicht
einmal ans Telefon. Seinen Leuten erklärte er immer, er sei eben der Chef und könne sich das erlauben. Sicher, jetzt hatte
er viel mehr Geld und Einfluss als früher, als er nur ein kleiner
battitaccu
war, ein Fußabtreter für alle, und man ihn verächtlich
Vituzzu ù Ciuncu ,
Vituzzu der Krüppel, nannte.
Er goss sich eine Tasse Kaffee ein und schlug die Zeitung auf. Nervös blätterte er bis zum Gesellschaftsteil, er wusste, dass
die Lektüre an diesem Morgen weniger entspannend sein würde als sonst.
»Neue Details zum Tod von Antonio Livraghi« – die |150| Schlagzeile sprang ihm sofort ins Auge. Erst nachdem er den Artikel bis zum Schluss gelesen hatte, merkte er, dass er die
ganze Zeit über die Luft angehalten hatte.
»Sie wissen nichts«, seufzte er erleichtert und betrachtete das Phantombild der toten Frau aus dem Eurostar, die er als Lena
kannte. »Verdammt!« Er warf die Zeitung auf den Tisch, nahm einen Schlüssel aus einem Kästchen, schloss den Schrank auf und
holte eines der beiden abhörsicheren Handys heraus. Er gab eine Nummer ein und wartete.
»Gute Arbeit. Allerdings hat unser faules Ei Spuren hinterlassen.«
Bei der Antwort zog er die Stirn in Falten. In diesem Augenblick tauchte in der Tür ein dunkelhaariger Junge in Pluderhosen
auf, die seinen Bauchnabel freiließen. Ein laszives Lächeln umspielte seinen Mund, doch Santanna ignorierte ihn. Er sprach
weiter: »Du kannst mir hier und jetzt zusichern, dass sie von unseren Geschäften in Venedig nichts wissen?« Dabei gab er dem
Jungen zu verstehen, er solle den Raum verlassen.
Dann wartete er gespannt auf die Antwort.
»Ganz sicher, ja? Die Signora soll den Mund halten, sie quatscht zu viel, die redet sich um Kopf und Kragen. Die kleine Hure
muss mehr Umsatz machen. Und das mit der Briefschreiberei hört jetzt auch auf.«
Noch während er sprach, klingelte sein zweites Handy.
»Der Rumäne«, murmelte er und wies den Anruf ab. »Dieser Idiot hat noch immer nicht kapiert, dass er mich auf diesem Telefon
nicht
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