Ich kenne dein Geheimnis
schönste Teil des Tages gewesen. Anfangs
hatte sie mit ihrer Mutter über ihre Träume gesprochen, und gemeinsam hatten sie überlegt, was sie wohl bedeuten konnten.
Im Laufe der Zeit hatte ihre Mutter die Traumbilder nicht mehr ganz ernst genommen, was zur Folge hatte, dass daraus ein Tabu
wurde, über das man besser schweigt. Ihre Mutter hatte ihr den Rat gegeben, einfach die Augen zu schließen, dann würden die
Bilder verschwinden. Aber so einfach war das nicht. Chiara hatte das Zweite Gesicht, mit geschlossenen Augen konnte ihr inneres
Auge nur noch besser sehen. Während sie ihren Toast in den Tee tunkte, erinnerte sie sich an den letzten Sommer bei Nonna
Lia in Pieve Santo Stefano. Sie hatte die Augen geschlossen, doch die Visionen waren nicht verschwunden. Diesen Sommer würde
sie nie vergessen.
Als sie ihren Tee getrunken hatte, klingelte das Telefon.
»Ciao, Annalisa.«
»Ciao, Chiara, ich weiß, du hast heute frei, aber der Chef möchte dich sehen. Heute Morgen ist ein Umschlag in der Redaktion
angekommen, und es scheint, dass eine Nachricht für dich drin war …«
»Eine Nachricht?«
»Mehr weiß ich auch nicht. Es tut mir leid, aber der Chef wollte, dass ich dich sofort anrufe …«
|183| »Gut, gib mir eine Stunde.«
Chiara entschied sich für ein ärmelloses Stretchkleid mit Hahnentrittmuster, dazu blickdichte Strumpfhosen und hochhackige
Schuhe. Als sie sich im Spiegel betrachtete, dachte sie an Ermanno Forte. Dem Boss würde sie so bestimmt gefallen. Wer wusste,
wozu es gut war.
Sie verließ das Haus und eilte auf ihr Auto zu, doch nach einigen Metern hörte sie die Stimme der Concierge:
»Signora Bonelli, hier ist ein Umschlag für Sie.«
Chiara wollte nicht wieder umkehren und rief zurück: »Ich hole ihn später, danke, Giusi.«
Als sie in die Redaktion kam, unterbrachen die Kollegen ihre Arbeit und starrten sie an. Alle Gespräche verstummten.
»Jetzt tut doch nicht so, als hätte ich noch nie ein Kleid getragen!« Chiara konnte sich die Aufmerksamkeit der Kollegen nicht
erklären. Doch als sie merkte, dass niemand über ihren Scherz lachte, war ihr klar, dass etwas anderes dahinterstecken musste.
Auf dem Schreibtisch das übliche Chaos: lose Blätter, Zeitschriften und bunte Notizzettel. Nichts Ungewöhnliches, die Blicke
der Kollegen einmal ausgenommen. »Was ist los?«
»Forte wartet in seinem Büro auf dich«, Annalisas Stimme klang ernst.
»Besser, du beeilst dich«, empfahl Luca, klopfte ihr auf die Schulter und begleitete sie unaufgefordert zum Büro des Chefs.
Auf dem Nachhauseweg fuhr sie zweimal über eine rote Ampel. Sie wurde den Gedanken nicht los, dass die Bilder der Nacht eine
Vorwarnung gewesen waren. Der Chef hatte alles versucht, um die Sache herunterzuspielen. So etwas würde vielen Film- und Fernsehleuten
passieren, meinte er.
|184| »Mach dir keine Sorgen, Bonelli, das ist nur ein Zeichen für deine Popularität.« Doch Chiara war blass geworden, als Forte
ihr den Brief gezeigt hatte. Das war keine Nachricht eines psychisch gestörten Fans, da war sie sich sicher. Aber was dann?
Wer hatte den Brief geschrieben?
Sie parkte ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Ihre Beine zitterten noch immer. Kaum hatte sie den Hausflur betreten, kam ihr
die Concierge entgegen. »Ihr Brief, Signora Bonelli!« Die Frau hielt ihr einen gelben Umschlag mit ihrem Namen und ihrer Adresse
entgegen. Genau so hatte auch der Umschlag ausgesehen, der in der Redaktion eingegangen war.
Chiara riss ihr den Brief aus der Hand. »Danke«, stammelte sie und hastete zum Aufzug. Dann drehte sie sich noch einmal um.
»Giusi, wissen Sie zufällig, wer den Brief abgegeben hat?«
»Ich habe niemanden gesehen. Ich war gerade auf dem Hof, um den Müll wegzubringen. In dieser Zeit muss jemand den Umschlag
bei mir ans Fenster der Pförtnerloge gesteckt haben. Stimmt etwas nicht?«, fragte Giusi besorgt.
»Nein, alles in Ordnung, danke.«
Als sie in ihrer Wohnung war, drückte Chiara den Umschlag fest an sich. Sie hatte Angst, ihn zu öffnen, aber noch mehr ängstigte
sie der Gedanke, es nicht zu tun. Sie nahm all ihren Mut zusammen und riss den Umschlag auf. Er enthielt genau das, was sie
erwartet hatte. Der Gegenstand war nur etwas kleiner als der aus der Redaktion. Sie rief Silvia an. Nur sie konnte ihr etwas
über dieses Projektil sagen.
Privatflugplatz Linate, sechs Uhr morgens. Giampiero Principini blickte aus dem Fenster der Falcon
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