Ich kenne dein Geheimnis
vernachlässigt, einverstanden.« Er verließ das Wohnzimmer.
|190| »Ich habe dich lediglich gefragt, wo du warst. Findest du deine Reaktion nicht etwas überzogen?«
Giampiero ging wutentbrannt ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Aber Anna ließ nicht locker. »Giampiero, es
spielt keine Rolle, ob du mir antworten willst oder nicht«, sie betonte jedes Wort. »Es spielt keine Rolle, und weißt du,
warum? Weil ich es selbst herausgefunden habe …« Sie lachte höhnisch.
Giampiero hatte seine Frau noch nie so erlebt. Er konnte sich nicht mehr beherrschen und schlug ihr ins Gesicht, schloss seine
Hände um ihren Hals und drückte zu: »Lass mal hören, was du herausgefunden hast, du Schnapsdrossel, lass hören!«
Annas Gesicht glühte vor Wut. Giampieros beißender Spott verschwand erst, als er seiner Frau in die Augen sah. Statt Panik
und Angst blitzte ihm blanker Hass entgegen. Zum allerersten Mal hatte sie nicht nachgegeben. Erschrocken ließ er los und
stieß sie von sich. »Du bist ja verrückt, völlig irre. Mit dir kann man nur noch Mitleid haben.«
Anna hustete und fasste sich an den Hals. Einen Augenblick lang sahen sie sich an wie zwei völlig Fremde, dann spürte Anna,
wie ihre Kräfte langsam schwanden. »Du widerst mich an, du widerst mich so an!«, schrie sie und brach in Tränen aus.
Angeekelt betrachtete Giampiero, wie sie zitternd zu Boden sank. »Typisch Anna«, dachte er, aber er spürte keine Genugtuung.
»Sieh dir nur an, was aus dir geworden ist«, höhnte er und trat mit der Schuhspitze nach ihr, als sei sie ein lästiges Insekt.
»Du bist widerlich.«
Anna hob den Kopf: »Ich mach dich fertig. Du vergreifst dich an unschuldigen Kindern, vielleicht sogar an Entführungsopfern.
Ich mache dich fertig, das schwöre ich dir.«
Giampiero erkannte einen neuen Ausdruck in ihren Augen |191| und erschrak. Sein Hals war wie zugeschnürt. Er wusste, dass Anna es ernst meinte und dass es nichts gab, was sie umstimmen
konnte. Er schob sie zur Seite und verließ den Raum. Dann nahm er den Trolley und den Aktenkoffer und ging zum Auto. Besser,
sterben, als alles verlieren, dachte er.
Während sie auf das Taxi wartete, betrachtete Chiara zum x-ten Mal das Projektil in ihrer rechten Hand. Sie konzentrierte
sich. Nichts. Sie fühlte nichts. Entmutigt versuchte sie es mit der linken Hand, doch das Resultat war das gleiche. Das Einzige,
was sie spüren konnte, war das kalte Metall, doch diese Erkenntnis würde Silvia wohl nur wenig nützen. Sie steckte das Projektil
in den gelben Umschlag zurück, schlüpfte in ihre Schuhe, zog den Mantel an, griff nach ihrem Koffer und verließ die Wohnung.
»Stazione Termini«, sagte sie dem Taxifahrer.
Während der Fahrt dachte sie an ihre gestrige Vision. Sie war auf dem Sofa eingenickt und hatte sich plötzlich auf der Straße
wiedergefunden, mitten in der Nacht, ganz allein, mit dem Schlüsselbund in der Hand. Als sie die Tür aufschloss, spürte sie,
wie zwei Männer sie von hinten packten. Auch wenn sie die Gesichter der beiden nicht sehen konnte, wusste sie, um wen es sich
handelte. Es waren dieselben Männer, die sie in der vorigen Vision aus dem Fenster geworfen hatten.
Plötzlich hatte sie eine Messerklinge vor sich aufblitzen sehen. »Wenn du nicht den Mund hältst, verlierst du deine Zunge«,
hatte ihr der eine ins Ohr gezischt. Genau in diesem Moment war Chiara schreiend aufgewacht. Für einen Augenblick war ihre
Zunge ganz taub gewesen.
»Dreißig Euro fünfzig, brauchen Sie eine Quittung?«
»Nein, danke«, Chiara zahlte und stieg aus.
|192| Der Zug fuhr pünktlich um halb neun ab. Silvia würde Chiara gegen eins in Mailand abholen und abends wieder zum Bahnhof bringen.
Wenn Chiara den Abendzug zurück nach Rom nehmen würde, könnte sie am nächsten Morgen wieder in der Redaktion sein. Das war
zwar ausgesprochen anstrengend, aber die schnellste Möglichkeit, Silvia das Projektil zu zeigen.
Sie setzte sich ans Fenster. Das schweigsame Pärchen neben ihr störte sie nicht. Nachdem sie sich telefonisch rückversichert
hatte, dass in der Redaktion alles in Ordnung war, zog sie einen Krimi von Andrea Camilleri aus der Tasche, fest entschlossen,
sich beim Lesen zu entspannen.
Einige Stunden später saß sie in Silvias verrauchtem Büro. Chiara hatte das Gefühl, ersticken zu müssen.
»Hast du irgendeine Erklärung? Könnte es ein Fan sein oder jemand, der dich einschüchtern
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