Ich kenne dich
schneller war als er, etwas nach ihm geworfen und ihn so verletzt? Vielleicht war Wilson im Unterholz gestolpert, und Carl hatte ihn eingeholt und sich dazu hinreißen lassen, loszutreten und zu schlagen. Vielleicht hatte er ihn gar nicht so schlimm verletzt. Er hätte nur einmal richtig auf sein Bein stampfen müssen, um es Wilson unmöglich zu machen, aus dem Wald herauszukommen. Es war so kalt nachts.
Ich würde nie erfahren, was wirklich passiert war. Aber Carl wusste es. Und während er Chloe vielleicht belog und ihr versuchte weiszumachen, dass es ein Unfall war, wusste sie, dass auf irgendeine Art Carl verantwortlich war und nicht ich. Alle beide hatten mich betrogen. Ich hatte nichts getan, um Wilson zu schaden, hatte ihn nicht einmal gehänselt, obwohl es leicht gewesen wäre. Und weil es für Carl bequemer war, ließen sie mich beide in dem Glauben, dass es meine Schuld war.
In jener Nacht marschierte ich an der Straßenböschung entlang und wartete eine Ewigkeit an einem Kreisverkehr, dass jemand anhielt und mich mitnahm. Vergeblich, und es war fast fünf Uhr morgens, als ich den Schlüssel in die Hintertür steckte und durch die Küche ins Haus schlich. Barbara war nachts aufgestanden und schlief auf der Couch, ein leeres Glas in der Hand. Ihr Mund war offen, als würde sie mich selbst in ihren Träumen anschreien. Ich hätte, ohne sie zu wecken, zum Telefon gehen und Carl direkt anzeigen können. Das geht auch anonym, aber wie hätte ich die Polizei auf Carl ansetzen können, ohne zuzugeben, dass ich auch dort war? Und Chloe?
Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass Carl, falls er auf einer Polizeiwache landete, nicht zögern würde, denen zu erzählen, dass ich dort gewesen war, und die ganze Schuld auf mich zu schieben. Chloe würde tun, was immer er von ihr verlangte, sie stand total unter seiner Fuchtel. Es war hoffnungslos, außer ich konnte sie irgendwie dazu bringen, mit mir zu reden, um sie auf meine Seite zu ziehen und uns anschließend abzusprechen, wie wir das gemeinsam der Polizei verklickerten. Wenn Carl hinter Gitter käme, würde alles wieder zur Normalität zurückkehren. Und dann hätten wir unser eigenes Geheimnis.
Ich lächelte. Es konnte funktionieren. Wir könnten weinen. Wir könnten behaupten, dass er uns gezwungen hat, den Mund zu halten, ein Loch zu graben, nichts über ihn zu sagen. Chloe konnte jeden von allem überzeugen. Ich könnte die Wahrheit sagen und mich trotzdem in Schwierigkeiten bringen. Sie könnte lügen, und wir würden beide davonkommen mit Mord. Ich hätte beunruhigt sein müssen, hätte um Wilson weinen müssen, aber nach dieser Nacht schlief ich tief und fest, weil ich bereits beschlossen hatte, was ich tun würde.
Jetzt lasse ich Emma alleine auf der Couch und gehe hinüber ans Fenster. Werfe einen kurzen Blick hinaus auf eine ganze Straße voller erleuchteter Fenster. Es ist nach drei Uhr morgens, und wir sind alle wach und verfolgen die Nachrichten. Ist das nur in dieser Stadt so? Dass alle vor der Mattscheibe kleben und alles glauben, was so ein Terry uns erzählt?
Emma bewegt sich leicht auf ihrem Platz, und die Couch quietscht. Ich drehe mich zu ihr um und bemerke, dass sie mich beobachtet. Sie hat immer noch ihre grüne Jacke mit den Buttons an – jedes Mal, wenn sie sich eine Zigarette gedreht hat, steckt sie das Feuerzeug und den Tabakbeutel zurück in die Innentasche, als würde sie mir zutrauen, dass ich sie beklaue, oder als wäre sie bereit, jeden Moment zu gehen.
Wir waren noch nie Freundinnen, Emma und ich. Wir waren beide angezogen von Chloes Licht und explodierten beide entlang derselben Flugbahn, als sie verglühte. Seit zehn Jahren habe ich ein Auge auf Emma, um herauszufinden, welche Geheimnisse von Chloe sie mit sich herumträgt und welche ich alleine hegen darf. Und ich habe bis jetzt gebraucht, um zu merken, dass sie ebenso ein Auge auf mich hat. Mich beobachtet aus irgendeinem Grund. Was kann sie getan haben? Was befürchtet sie, kann ich ihr anhaben?
Heute und jeden Tag in den letzten zehn Jahren hat unsere ganze Stadt über ihrem kollektiven Bilderalbum gesessen und ihre Erinnerungen an Chloe erfunden. Wer bin ich, frage ich mich plötzlich, anzunehmen, dass ich nicht genau dasselbe getan habe – oder dass meine Version von Chloe realer ist als die der anderen?
23
Ich musste nicht lange warten. Sie kam nach der Schule zu mir, immer noch den Dreck unter den Fingernägeln und einen roten Riss im Mundwinkel, als würde
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