Ich kenne dich
Schweigen, während der Spülkasten wieder volllief.
»Soll ich dir die Haare binden?«, fragte sie. Ich denke, sie hatte bemerkt, wie langsam die Zeit verstrich, jetzt wo Donald nicht mehr dazwischenplatzte.
»Nein. Ich gehe jetzt ins Bett.«
»Jetzt? Aber es ist … «
»Ich bin müde.« Ich ließ mich rückwärts auf die Decke plumpsen und wandte das Gesicht von ihr ab.
»Soll ich gehen? Ich muss nur kurz meinen Dad anrufen, damit er mich abholt.«
Ihre Stimme war sehr leise. Ich hatte sie noch nie so mit mir reden hören, nur mit Carl. Ein flehender Ton.
Ich zuckte mit den Achseln und lag still, bis ich hörte, wie die Haustür sich öffnete und hinter ihr schloss.
24
Emma trug ihre Sportsachen immer in einer zerrissenen Plastiktüte von Morrisons, auf die mit schwarzem Filzstift ihr Name geschrieben war. Wir anderen hatten spezielle Turnbeutel mit dem Schulabzeichen oder Sporttaschen aus dem Laden. Emma trug ihre Tüte mit sich herum, ohne sich zu schämen, als hätte sie nicht bemerkt, dass sie die Einzige war, die so herumlief. Sie hatte die Tüte dabei – und einen schwarzen Geigenkasten – , als sie mich später in der Woche besuchte.
»Sorry«, sagte sie. Ich hatte gedacht, es wäre Barbara, und Donalds Tagebuch seitlich unter die Matratze geschoben, für den Fall, dass seine Handschrift sie verstörte.
»Ich dachte, du hättest mich auf der Treppe rufen gehört. Deine Mutter hat gesagt, ich soll einfach hochgehen.«
»Schon gut. Ist Chloe bei dir?« Ich spähte über ihre Schulter hinweg, aber sie zog die Zimmertür hinter sich zu. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin alleine.«
Sie lehnte den Geigenkasten an die Wand und stellte sorgfältig die Tüte und ihren Schulrucksack ab, bevor sie sich auf meinen Schreibtischstuhl setzte. Alles sehr bedächtig und langsam, als würde sie den Moment vor sich herschieben, in dem sie mit mir reden musste. Ich setzte mich auf und schwang die Beine aus dem Bett; ich wollte mir nicht vorkommen wie ein Patient im Krankenhaus.
»Wir hatten keine Gelegenheit, zu reden«, sagte sie. Sie steckte die Hände in die Bundfalten ihres Schulrocks – sie zitterten.
»Worüber? Ich bin okay«, sagte ich. »Ich komme morgen wieder in die Schule.«
Sie beugte sich vor und lächelte mich an, und auf ihrem Kinn und ihrer Nase waren schwarz verstopfte Poren. »Du kannst auch länger zu Hause bleiben, wenn du willst.«
»Ich weiß. Aber mir ist langweilig. Irgendwann muss ich ja zurückkommen. Und dann ist da dieses Forschungsprojekt.«
Sie lächelte, als wüsste sie, dass ich log. Ich erkundigte mich nicht bei ihr nach Chromatografie oder danach, ob sie beschlossen habe, das Projekt aufzugeben und bei Chloe und ihren Nüssen einzusteigen. Ich erzählte ihr nichts von dem Eis, und sie fragte mich nicht nach Donalds Beerdigung oder wie es mir ging. Es gab nichts zu sagen, und das Schweigen war unbehaglich. Ich hatte es nicht eilig, zu reden, schließlich war sie zu mir gekommen, also konnte sie sich, während sie dasaß, auch etwas einfallen lassen, was sie sagen sollte. Und wenn ihr nichts einfiel und sie ein schlechtes Gewissen bekam, war das ihr Problem. Vielleicht würde sie einfach ihren Geigenkasten nehmen und nach Hause gehen.
»Chloe wird froh sein, dich bald wiederzuhaben, schätze ich«, sagte sie. »Ihr geht es in letzter Zeit nicht so gut. Hast du das gewusst?«
Ich dachte an den eingerissenen Mundwinkel. »Ja, das ist wegen Carl. Es stresst sie, dass sie Carl nicht sehen darf. Wahrscheinlich befürchtet sie, er könnte sie durch eine andere ersetzen.«
Emma blickte auf ihre Hände und sagte lange Zeit nichts. Ich hatte das Gefühl, sie stand kurz davor, mir etwas anzuvertrauen. Aber wir waren vorher noch nie unter uns gewesen. Wir waren keine Freundinnen – wir waren Chloes Freundinnen. Ich hatte nicht gewusst, dass sie Geige spielte, ich wusste nicht die Namen ihrer Brüder, wie ihr Haus von innen aussah, ob sie Körperspray benutzte oder lieber einfache Seife. Und ich habe keinen Zweifel, dass sie mich genauso oberflächlich kannte wie ich sie – Chloe war unsere einzige Gemeinsamkeit, Chloe, die uns zusammengebracht hatte und uns, auf vielerlei Arten, auch auseinanderhielt.
»Ich hatte ein schlechtes Gewissen, nachdem ich das mit deinem Vater erfahren habe. Wegen all der Sachen, die Chloe und ich zu dir gesagt haben. Das war nicht angebracht.«
Das war nicht das, wofür sie extra gekommen war, um es mir zu sagen. Ich zuckte mit den Achseln.
»Es
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