Ich kenne dich
betrachtete.
»Unsinn. Du siehst aus wie ein Model«, erwiderte sie.
Sie gab mir ihre Korsage, und ließ mich auf dem Bauch liegen, mit angewinkelten Beinen, die Füße in der Luft. Ich spürte ihre Finger auf meiner Haut, als sie die Strapse und Klammern an der Korsage richtete, sodass sie richtig saß, und mir die Brille abnahm. Sie klappte sie zusammen und legte sie auf den Schreibtisch, außerhalb meiner Reichweite.
»Drück die Zungenspitze von hinten gegen deine Schneidezähne und denk an was Erotisches«, sagte sie. Sie bemalte meinen Mund dick mit Lippenstift, der wie Bratpfannen roch.
»Chloe«, stöhnte ich, »mir ist kalt. Ich komme mir blöd vor.«
Sie lachte. »Wer schön sein will, muss leiden.«
Chloe schoss eine Handvoll Bilder, während ich in der kratzigen rot-schwarzen Korsage posierte, die Carl ihr geschenkt hatte. Ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper und versuchte, an etwas Erotisches zu denken, während die Welt, verschwommen und konturenlos ohne meine Brille, zusammenschrumpfte auf das Geräusch ihres Atems und sie, die Zungenspitze im Mundwinkel, die Einstellungen der Kamera ausprobierte.
Die Fotos waren okay. Chloe gab mir meine Brille, damit ich sie betrachten konnte. Sie pustete sie trocken und reihte sie aneinander auf meinem Schreibtisch. Ich sah mich selbst, blass und unsicher, wie ich mit einer Zigarette posierte, die Lippen gespitzt wie Jessica Rabbit. Ich konnte besser fotografieren als sie, denn die meisten Aufnahmen waren verwackelt und schief. Chloe wirkte enttäuscht.
»Carl hat eine richtige Kamera«, sagte sie und tat so, als würde sie an einem Objektiv drehen, ein Auge zugekniffen. »Er entwickelt die Bilder selber.«
»Ja«, sagte ich, »ich weiß.«
Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie mit mir darüber sprechen würde, was sie und Carl in jener Nacht im Wald getrieben hatten. Kein Mensch konnte sowas ewig mit sich herumschleppen. Sie würde jemanden zum Reden brauchen, und dieser Jemand würde ich sein, und dann würde alles wieder so werden, wie es im Sommer gewesen war. Ich kam ihr so nah wie möglich, bohrte sanft, wenn das Gespräch in diese Richtung führte, und wartete.
»Du siehst super aus«, sagte sie und drückte mich.
Chloe ließ mich die meisten Fotos behalten.
Es war unsere letzte gemeinsame Woche in der Schule.
25
Barbara schlurfte immer noch in ihrem Nachtzeug durch das Haus. Sie war zu merkwürdigen Zeiten unterwegs und weckte mich oft auf, wenn sie Eiswürfel mit einem Nudelholz aus dem Plastikbehälter klopfte. Sie wischte mitten in der Nacht Staub, und einmal ertappte ich sie um drei Uhr morgens dabei, wie sie auf dem Boden im Wohnzimmer Donalds Hemden stapelweise zusammenlegte und neu faltete. Sie verschenkte sie nicht und warf sie auch nicht weg. Ihr Verhalten wurde allmählich richtig unheimlich – kein Wunder, dass Chloe wollte, dass wir uns bei ihr trafen. Außerdem hatte sie beschlossen, dass es mir guttun würde, wenn ich mal aus meinem Zimmer herauskäme. Sie sprach von einem »Tapetenwechsel«. Es klang wie ein Ausdruck, den sie von Amanda übernommen hatte, bloß dass zwischen den beiden immer noch Krieg herrschte.
Ich ging zu Fuß. Der Winter war noch nicht vorbei, und der Himmel war weiß, und die Scheiben der Autos, an denen ich vorbeikam, waren zugefroren. Jemand hatte eine halb leere Dose Fanta in die Bushaltestelle gekickt, und die orangefarbene Flüssigkeit war auf dem Gehweg erstarrt. Ich blieb stehen und schaute eine Weile darauf, obwohl ich nicht wirklich interessiert daran war. Ein Plakat, das an der Haltestelle klebte, sprang mir ins Auge. Nicht das mit Wilsons Gesicht – ein anderes, neueres, mit dem riesigen Clip-Art-Bild von einem Auge. Der Text darunter war für die neue Bürgerwehr bestimmt. Nur Männer, Treffpunkt einundzwanzig Uhr am Bahnhof, um eine langsame Runde durch das Stadtzentrum zu machen. Das Auge war anatomisch korrekt – der Sehnerv hing noch dran. Es sah grausig aus. » Sieh hin!«
Ich wollte nicht weitergehen. Ich hatte keine Lust, auf der pfirsichfarbenen Couch zu sitzen und mich mit Chloes Mutter zu unterhalten: Sie wollte immer, dass ich »Amanda« zu ihr sagte und über Regelschmerzen und Jungs und Pickel quatschen, lauter Sachen, für die mir die Erfahrung fehlte, das Interesse und das Bedürfnis, mit ihr darüber zu sprechen. Aber noch weniger wollte ich zu Hause hocken und Barbara dabei beobachten, wie sie die Hemden durch die Luft flattern ließ, um sie ein letztes Mal neu
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