Ich kenne dich
Hand nach dem Merkblatt aus. Sie riss etwas Klopapier von der Rolle ab und schnäuzte sich geräuschvoll.
»Was hat Carl gesagt?«
»Ich habe ihm nichts davon erzählt.«
»Das solltest du aber. Wenn du tatsächlich schwanger bist, dann ist es seine Schuld, oder nicht? Er kann dir helfen, die Sache zu regeln. Er kann dich zum Arzt begleiten oder so.«
»Ich kann nicht zum Arzt gehen.«
Wir hatten geflüstert, aber den letzten Satz sagte Chloe laut, energisch. Sie schüttelte heftig den Kopf, und ihre A ugen füllten sich mit Tränen.
»Ich wollte es eigentlich gar nicht«, sagte sie, »aber er hat mir so teure Weihnachtsgeschenke gemacht.« Sie streckte den Arm aus, und zuerst dachte ich, sie wollte eine Umarmung, und ich wich ein kleines Stück zurück, aber an ihrem Handgelenk klirrte etwas, und ich sah das goldene Armband mit kleinen Anhängern, die unter der Manschette ihrer Schulbluse leise klingelten. »Siehst du?«, sagte sie, und die Anhänger klimperten, bis ich nickte und sie den Arm sinken ließ.
Ich will das nicht hören, dachte ich. Ich will nicht nach Hause gehen und darüber nachdenken und die Verantwortung haben, mit niemandem darüber zu sprechen. Trotzdem, wem würde es Chloe sonst noch erzählen? Ich war nur froh, dass es nicht Emma war. Ich stellte mir vor, wie Chloe fetter und fetter wurde und die Schule abbrechen musste und wahrscheinlich umgebracht wurde, buchstäblich, von ihren Eltern, wenn sie dahinterkamen. Ich stellte mir vor, wie Donald und Barbara es erfahren würden. Ich stellte mir vor, dass sie mir verbieten würden, rauszugehen oder fernzusehen oder Musik zu hören oder Zeitschriften zu lesen, bis ich achtzehn war. Ich stellte mir vor, dass sie mit mir wahrscheinlich zum Arzt gehen würden, um sicherzustellen, dass ich da unten noch versiegelt war und weder infiziert noch schwanger. Dann stellte ich mir vor, zum Frauenarzt zu müssen und mich vor jemandem nackig zu machen und mir mit einer Taschenlampe in mein Allerheiligstes leuchten zu lassen.
»Okay«, sagte ich, »ich verstehe, was du meinst. Außerdem würden die dann deine Mutter informieren, oder nicht?«
Chloe stützte die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. Ich konnte ihr von oben auf den Kopf schauen, wo ihr französischer Zopf ansetzte, und auf die dunklen Flecken in ihrem grauen Rock, wo ihre Tränen landeten, die vom Kinn tropften.
»Dann musst du es Carl sagen«, empfahl ich rasch, praktisch denkend, statt sie zu berühren. »Er muss es erfahren. Es gibt die Pille danach. Vielleicht kann er sie dir besorgen. Vielleicht hat er einen Kumpel, der eine Freundin hat, die älter ist als wir. Sie kann dann zum Arzt gehen und sagen, dass sie ein Rezept braucht. Das kann sie einlösen und Carl die Pille geben. Und Carl gibt sie dann dir. Ich habe noch ein bisschen von meinem Weihnachtsgeld übrig, falls Rezeptgebühren fällig werden. Du kannst es haben, wenn du willst.«
»Was, wenn es richtig teuer ist?«
»Carl kann dir was geben, oder? Sollte er nicht wenigstens die Hälfte übernehmen?«
Dabei musste ich an einen der Anmachsprüche denken, mit denen die Jungs hausieren gingen. Nicht, dass einer ihn zu mir gesagt hätte, aber ich hatte mitbekommen, dass die Jungs ihn bei Chloe ausprobierten.
Das lief folgendermaßen ab: Einer der Jungs setzte sich neben ein Mädchen und quatschte eine Weile mit ihr über alles Mögliche. Über Hausaufgaben oder über Musik oder über jemanden, den beide kannten. So fing es normalerweise an. Währenddessen rückten die anderen Jungs immer näher heran, bis sie in Hörweite waren. Dann sah der eine das Mädchen ganz ernst an und sagte: »Hast du Bock? Wir machen halbe-halbe und teilen uns einen Bastard.«
Das war die Version der Jungs von »Let’s be friends«, und sie hielten es für den Brüller schlechthin. Das ging so weit, dass sie sich den Spruch fünf- bis sechsmal in jeder Unterrichtsstunde zuraunten, sodass es selbst die Lehrer mitbekamen.
»Ich kann es Carl nicht sagen. Er wird ausrasten.«
Ich vergaß zu flüstern. »Tja, es ist seine Schuld, oder? Warum sollte er ausrasten? Hat er nicht dafür gesorgt, dass er – du weißt schon – sich was überzieht oder so?«
Chloe machte ein entsetztes Gesicht.
»Du bist echt pervers!«, sagte sie.
»Nun, du musst was unternehmen«, sagte ich, »statt nur rumzusitzen und zu heulen.«
Chloe stand auf. Sie griff an mir vorbei und öffnete die Tür.
»Danke für deine Unterstützung«, sagte sie und biss
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