Ich kenne dich
Sommer gewesen war. Es gab noch Hoffnung: Immerhin war ich diejenige, der sie sich anvertraut hatte. Sie hatte mich um Hilfe gebeten – mich, nicht Carl, nicht einmal Emma. Selbst wenn mehr hinter der Geschichte steckte, als sie mir erzählt hatte, ist ein halbes Geheimnis immer noch besser als gar kein Geheimnis, und das war eben ihre Art, mich wissen zu lassen, dass ich etwas Besonderes für sie war und dass sie mich brauchte. Und das war die Wahrheit, auch wenn sie sich in ihrer Not schlecht ausgedrückt hatte, launischer und schroffer war, als sie vielleicht sonst gewesen wäre.
13
Als ich morgens in die Schule kam und zur Registrierung ging, fiel mir als Erstes auf, dass es viel lauter war als sonst. Aber ich hatte gute Laune und bekam erst später etwas von dem aufgeregten Getuschel um mich herum mit. Ich war richtig energiegeladen und entschlossen, das mit Chloe zu regeln. Ich hatte eine Anzeige von einer Schwangerschaftsberatungsstelle dabei, die ich aus meiner Zeitschrift herausgerissen und sicher zwischen den Seiten meines Hausaufgabenhefts verstaut hatte, um sie Chloe zu geben, sobald wir unter uns waren. Die kostenlose Hotline war in einer freundlichen Schnörkelschrift gedruckt, die aussah wie von Hand geschrieben, und nachdem ich dort angerufen hatte, erfuhr ich, dass die nächste Klinik in Manchester war. Vertraulichkeit garantiert . Chloe würde sich unheimlich freuen, dass ich eine Lösung für ihr Problem gefunden hatte, ohne jemanden einzuweihen, den sie nicht einbeziehen wollte. Damit konnte ich ihr wirklich beweisen, dass ich ihre wahre Freundin war, und nicht Emma. Und sobald wir ihr Problem geklärt hatten, könnte ich mich darauf konzentrieren, Carl loszuwerden, indem ich einfach darauf hinwies, dass er derjenige war, der ihr den ganzen Schlamassel eingebrockt hatte, und dass sie nicht auf seine Hilfe vertraute. Sie würde sich ganz allein auf mich verlassen müssen.
Der Registrierraum war tagsüber der Kunstraum, in dem unterrichtet wurde, aber morgens war es nur ein Klassenzimmer, in dem die Farben und der Lehm weggepackt waren in abschließbaren Schränken. Sie trauten uns nicht, zu Recht, und schlossen alles ein, was interessant war, um damit Unfug zu treiben. Wir sollten still sitzen und antworten, wenn unser Name aufgerufen wurde, und der täglichen Andacht lauschen und unsere Scheine für kostenloses Schulessen (ich) und fürs Nachsitzen (Chloe) abholen. Aber heute standen alle, statt auf ihren Plätzen zu sitzen, und ich konnte Chloe nirgendwo entdecken. Alle redeten durcheinander, und ich konnte nicht verstehen, worum es ging. Ich fing nur die Stimmung auf, die aufgeregt war und freudig und ein bisschen schadenfroh. Es war dieselbe Stimmung, die damals in der Luft gelegen hatte, als jemand durch das große Fenster im Geografieraum zwei Hunde entdeckte, die sich auf dem Fußballplatz paarten – mitten auf dem Kunstrasen. Das hatte einen Riesentumult gegeben, aber als ich jetzt durch die mit Farbe und Spucke verschmierte Scheibe blickte, sah ich gar nichts außer Möwen, die über den Hof kreisten und nach Chipstüten pickten.
Ich näherte mich sehr langsam der wogenden Masse aus schwarzen Blazern und blauen Pullovern. Dabei betrachtete ich die Zeichnungen von Äpfeln und Glühlampen und zusammengeknülltem Zeitungspapier, die an den Wänden hingen. Ich hoffte, Shanks würde gleich auftauchen und uns alle auf unsere Plätze scheuchen, bevor ich die Mitte des Raums erreichte.
»Geht es um den Triebtäter?«, fragte ich niemanden speziell. »Hat er wieder zugeschlagen?«
Keiner gab Antwort, das Menschenknäuel war dicht. Die Schule war okay, solange es Lehrer in der Nähe gab, die dafür sorgten, dass es vernünftig zuging. Ich ging langsam weiter und fragte mich, ob der Triebtäter eine von uns erwischt hatte. Es war möglich. Zwei der früheren Opfer besuchten die Mädchenschule um die Ecke. Ich stellte mir vor, wie der Kerl mit der Halloween-Maske im Wald herumlungerte, wo wir unseren Geländelauf machten, und spürte einen heimlichen, fiebrigen Kitzel. Dann hörte ich, dass jemand etwas über Chloe sagte.
Es gab nur eine Person, die saß, und alle anderen umringten sie, als warteten sie auf ein Autogramm von ihr. Emma. Emma verwandelte sich rasch in die Art von Mädchen, die einen schwarzen Spitzen- BH unter ihrer weißen Schulbluse tragen, damit alle ihn sehen können, sobald sie ihren Pullover ausziehen. Sie öffnete und schloss ihre Schultasche, als wäre etwas darin, was
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